Gedichte...

Mitleid

Über 40 Kinder
jüdischer Konfession
legal illegal
während der Kriegswirren versteckt
und dann doch
wohl aufgrund gezielter Denunziation
bei einer Razzia festgenommen
deportiert
dem Vernichtungslager „zugeführt“:
Die Kinder von Izieu

Die Gruppe
genießt die Aussicht auf die Rhône
beschaut Fotos lächelnder Kindergesichter
lauscht der Geschichte des Heimes
sitzt auf jenen Bänken
auf denen einst die Kinder saßen
beschaut deren Zeichnungen
liest deren Briefe
und fühlt sich hinein
in die Kinder
und ihre glückliche unglückliche Zeit

Alle
sind tief berührt und bewegt
lange bevor
der erste die Vitrinen mit Fotos
von Bergen aus Kinderleichen in Auschwitz erreicht:
medizinische Experimente, Typhus und Gas
Mitleid, Entsetzen, Angst
Gefühle, über die später
noch lange zu sprechen sein wird

Eine Bachstelze
die sich in einen der Museumsräume verirrt hat
fliegt wieder und immer wieder
verzweifelt
und sich selbst dabei verletzend
von innen gegen das Fenster
hinter welchem sie ihre Freiheit erblickt
Ohne Hilfe
ist ihre Lage aussichtslos
„Ach, woher kommst denn Du?“,
fragt die erste Person aus der Gruppe
die ihr überhaupt Aufmerksamkeit schenkt
und geht vorbei
den nächsten Fotos und Vitrinen entgegen

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Unglück im Glück

Im Kopf ein Ende
      wegen der Summe der Verluste
      früherer Jahre
      und nun erneut
Im Gesicht die Tränen
Im Rücken ein langer Weg
      fast immer alles erreicht
      Glück in jedem Unglück gehabt

Vor dem inneren Auge
keine Familie: Verwandte
kein Zuhause: nur fremde Stadt
keine Heimat oder Zuflucht: nur Wurzellossein

Vor dem wirklichen Auge
Sonne: der französische Frühling
und ein Witz des Lebens
das zärtlich gen einem lacht:

Ein Abbild dessen
was man verloren zu haben glaubte
läuft lächelnd und lebensfroh
unverloren
      ein Stück Erinnerung
      an eine mögliche Zukunft
an einem vorbei

Ich schäme mich
ob der Beliebigkeit
meines Unglücks
im Glück

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Wiederholungszwang

Wenn ich mich umbrächte
      erhängte
      denn wenn, will ich es richtig tun
gleich jetzt und hier
es kümmerte
kaum irgendwen

Zwei, drei
würden sich wundern
vier, fünf
äußern: oh, ja, Depression
ein, zwei
sich Vorwürfe machen, vielleicht
und alle, alle würden sie meinen
      und von Psychologen geraten bekommen
      dies zu tun:
Ein trauriges Schicksal
doch in niemandes Verantwortung
c’est la vie

Das grandiose Selbst in mir meint:
Das ist unter meinem Niveau
Das depressive Selbst in mir meint:
Eben. Drum!
Das Kind in mir
wöllte einfach nur spielen
wahrgenommen und beachtet werden
und meint:
Gut, wenn sich ohnehin keiner um mich schert, tus!
      und erinnert sich
      vieler Momente
      in denen es wünschte
      es wäre lieber tot
C’est sa vie

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Fünfundneunzigster Tag

Am 95. Tag verlor ich ihr Bild

Oder ich hatte bereits
einige Tage zuvor verloren
und bemerkte es erst jetzt

Trotz aller Anstrengung
nur noch ein Schemen
kein Gesicht mehr
nicht sie

Als ich gerade traurig zu werden beginne
ob dieses Verlusts
werde ich stattdessen plötzlich glücklich
denn ich erinnere ja auch des Glückes nicht mehr
ob dessen ich trauere
den 95. Tag

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