Donnerstag
Heute Abend hatte ich so was Ähnliches wie Sex. Wobei „Kuscheln und dabei verdroschen werden“ eigentlich die bessere Umschreibung ist. Die Frau heißt Fon und ist, wenn ich richtig verstanden habe, 4 Jahre älter als ich. Sie ist klein und grazil, könnte mir aber wohl mit einem Handkantenschlag den Rücken brechen; und ich glaube, gelegentlich hat sie das auch schon versucht, nur eben noch un-bestimmt, ohne wirkliche (welch schönes Wort) Brech-Intention. Wir kennen uns etwa 2 Jahre und ich bin immer fix und fertig, nachdem wir uns gesehen haben. Seit Neuestem legt sie mich immer auf sich rauf, hebt mich dann mit ihren Knien hoch und wirbelt mich in der Luft rum. Ich bin sehr froh, dass meine Achterbahnunverträglichkeitsthematik erst ab ca. 3 Metern Höhe einsetzt, sonst würde das zu größeren Problemen führen. So macht’s nur ab und an knack irgendwo und bin ich etwas nervös und verschämt. Das bin ich auch, wenn dann bei einer anderen Sache mein Hinterkopf zwischen ihren Brüsten ruht. Ehrlich gesagt, beschämt mich das sogar sehr; aber als ich ihn, den Kopf, meine ich, heute entgegenkommenderweise abzuheben versuchte, fand sie das gar nicht gut. Ich glaube, sie mag mich. Ich glaube nicht, dass sie „sowas“ mit jedem macht. Das macht mich nervös. Ich weiß gar nicht, warum. Fon kommt aus Thailand. Da ist es so heiß, dass es keine Schokolade gibt. Ich habe ihr daher heute einen Schokoweihnachtsmann zum Abschied geschenkt. Das hat sie riesig gefreut. Nun überlege ich, ihr nächstes Jahr zu Weihnachten noch eine Tupperdose zu schenken. Dann kann sie den – oder vielleicht einen anderen – Weihnachtsmann mit nach Thailand nehmen. Dann gibt es da auch Schokolade. Man muss nur wissen, wie…! Nachdem ich bei Fon war, bin ich noch bei meinem Fastfooddealer eingekehrt. Der hat mir einfach grundlos einen Tee ausgegeben. Ich glaube, der mag mich auch. Puuh… Meine Mutter würde sagen: „Jens, die wollen alle nur Dein Bestes… (betretenes Schweigen; immer noch; ja, es iiist ein langes Schweigen, kann ich ja nix für)…: Dein Geld!“ Zum Glück habe ich nicht den Humor meiner Mutter geerbt. Sie hat nämlich keinen. Jetzt frage ich mich allerdings, wieso mein Schreibprogramm aus Tupperdose Tuberkulose macht. …der Schokoladenweihnachtsmann nach 3 Tagen Thailand? Oder der Tee beim Fastfooddealer, den er mir nur wegen seines schlechten Gewissens in Bezug auf… Igitt! Nein, das muss ich gar nicht wissen; und ich will auch nicht mehr alles verstehen. Verstehe das, wer will.
Freitag
Ich denke seit Tagen darüber nach, komme aber zu keinem rechten Schluss. Ein wenig beruhigt mich das Rilke-Wort, in dem es heißt, wenn man nur die Fragen liebte und nicht vergäße, lebte man eines fernen Tages, ohne dies zu merken, auch in ihre Antworten hinein. Doch helfen, wirklich helfen, tut mir dies nicht. Ich bin einsam und frage mich unter anderem, warum so viele Leute in meinem Alter so grau im Gesicht sind, so endlos „alt“ wirken auf mich. Damit meine ich nicht nur die Ministerialen, wie ich sie in Landtagsausschüssen und -sitzungen sooft traf, und die aussahen, als würden sie sich, selbst erst Mitte dreißig, um eine Rolle als Grauer Herr bei Momo bewerben – einem, der die Sechzig weit hinter sich hat. Damit meine ich auch die ganz normalen Leute, die ein „geregeltes“ Leben leben, die arbeiten gehen, hiernach essen und schließlich ruhen, um dann erneut arbeiten zu gehen, hiernach zu essen und schließlich zu ruhen. Warum fühle ich mich in ihrer Gegenwart oft so kindlich-gelangweilt und deplatziert? Warum macht es mich traurig, auf meine Frage, was sie im Leben noch erträumen, sooft zu hören: „Arbeiten und dann in Pension“, „In zwei Jahren das größere Auto“ oder „Arbeiten und irgendwann eine nette Frau kennenlernen“? Traurig jedenfalls macht es mich. Auf eine Art, die ihrerseits niemand versteht. Denn, um es mit Hans Schnier zu sagen: „Diese Leute verstehen nichts. Sie wissen zwar alle, dass ein Clown melancholisch sein muss, um ein guter Clown zu sein, aber dass für ihn die Melancholie eine toternste Sache ist, darauf kommen sie nicht.“ Die Frage, die ich mir stelle, ist wohl jene von Erich Fried; sie lautet: „Was ist Leben?“. Meine Antwort hierauf fürs erste, für diesen Moment: Eben das, und oft nur das, was jenseits aller Zweckrationalität geschieht. Nur eben: Ist derlei Leben schon lang aus der Mode geraten. Und mit ihm so vieles, was dringend vonnöten wär – nicht nur für mich. Erich Fromm schreibt in „Die Kunst des Lebens“ dazu:
„Ich habe den Eindruck, dass in unserer Kultur nur noch wenig Zärtlichkeit zu finden ist. […] Ich behaupte nicht, dass wir nicht die Fähigkeit zur Zärtlichkeit besitzen, sondern nur, dass uns unsere Kultur den Mut zur Zärtlichkeit nimmt. Das liegt teilweise auch daran, dass unsere Kultur zweckorientiert ist. Alles hat seinen Zweck, alles zielt auf etwas Bestimmtes ab, das es zu erreichen gilt. Unser erster Impuls ist immer, etwas zu erreichen. Wir haben kaum noch ein Gefühl für den Lebensprozess selbst, ohne irgendetwas erreichen zu wollen, nur zu leben, nur zu essen oder zu trinken oder zu schlafen oder zu denken oder etwas zu fühlen oder zu sehen. Wenn das Leben keinen Zweck verfolgt, sind wir unsicher: Wozu ist es dann da? Auch die Zärtlichkeit verfolgt keinen Zweck. Sie hat nicht den psychologischen Zweck, Entspannung oder eine plötzliche Befriedigung zu bewirken wie die Sexualität. Die Zärtlichkeit hat keinen anderen Zweck, als sich an dem warmen, lustvollen, fürsorglichen Gefühl für einen anderen Menschen zu freuen. Deshalb scheuen wir die Zärtlichkeit.“
Zwar scheue ich sie nicht oder kaum, komme mir jedoch gelegentlich unbeholfen und eigenbrötlerisch mit ihr vor. Beispielsweise dann, wenn ich zuweilen den Ring, den ich am Daumen trage, oder eines der Fotos aus meinem Regal zärtlich streichele oder küsse, dabei diesem oder jenem gedenkend. Fast möchte ich mich schämen hierfür; tue es dann aber nicht.
Und wieder denke ich an Erich Fried. An das, was er in „Das Unmaß aller Dinge“ schreibt. Darin steht:
„Genau das ist der Grund, aus dem ich es immer schwerer finde, zu weinen aufzuhören. Nein, das stimmt gar nicht: Es ist nicht der Grund, aber es ist ein Grund, einer der Gründe. Wer glaubt, das Weinen eine Niederlage ist, der kann sich vielleicht nur nicht mehr daran erinnern, wie es ist, zu weinen aufzuhören, ehe es einem möglich ist, sich wirklich auszuweinen. Das ist die eigentliche Niederlage. […] Es wäre besser, nicht mehr aufhören zu müssen zu weinen. Es wäre ehrlicher und vielleicht auch weniger quälend. Sogar die Angst der andern, einen weinen zu sehen, ist nicht nur Mitleid, sondern auch Hilflosigkeit, Ratlosigkeit gegenüber jenem Rest von Freiheit, der sich da noch zeigt und störend wirkt, wie Freiheit heute schon fast immer.
Es gibt einen dummen und grimmig-lächerlichen Zustand, in dem die Intensität unseres Mitgefühls so viel von der Lebenskraft aufzehrt, daß wir nicht mehr imstande sind, für die, denen unser Mitgefühl gilt, etwas zu tun. Überhaupt scheint manchmal die in uns noch verbleibende Menschlichkeit unserer Lebenstüchtigkeit indirekt, also umgekehrt proportional zu sein. Dieses Verhältnis ist nicht unwichtig, wenn man das schließliche Gesamtergebnis annähernd zu erraten versuchen will.“
Ich glaube, er war auch ein Clown. Nur sehr viel älter und weiser als ich.
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