Gedichte...

Freiheit, die zweite

Freiheit
wird heut wieder gerne getragen

Man trägt sie
kurz oder eng
auf den Oberschenkeln
am Po
abgeschnitten
nach oben gebunden
gesteckt
auf dem Kopf

Ganz sicher aber nicht
hängend, stoffern und dicht
vom Kopf
über den Po
zum Boden hinab
mit Sichtschlitzen
vor dem Gesicht

Die Freiheit ist schließlich schon groß
und entscheidet selbst, wer sie ist
nicht wir
Wo kämen wir
ansonsten auch hin

Standard
Gedichte...

Freiheit, die erste

Freiheit
wird heut wieder großgeschrieben

Wir sollen frei sein von
Liebe
Solidarität
Mitgefühl
Wärme
Hilfe
Unterstützung
Mut
und mehr

Dann sind wir
lieblos
egoman
hart
kalt
hilflos
allein
und voller Angst

und funktionieren wunderbar
in dem, was sie
vermeintlich um unseretwillen
gestalten und Gesellschaft nennen

Hinter unserem Rücken aber
nennen sie es Markt
und wetzen die Messer bei Nacht

Standard
Gedichte...

Sonnenstrahl

Wie manch anderer auch
bist Du ein Sonnenstrahl,
der gar nicht ahnt,
wie hell und warm er ist.

Wie aber solltest Du auch?
Du siehst und wärmst Dich selbst ja nicht
– nur immer andere,
bis, ja bis: Man Dir den Spiegel vorhält.

Standard
Gedichte...

Antwort auf einen Brief

Ich lese, was Du schreibst
von Deiner Oberflächlichkeit
und Deinen schlechten Seiten,
und dass Du fürchtest,
ich hätte diese
vielleicht nur übersehen

Ich frage erst mich
und dann, in meiner Antwort an Dich, Dich,
was genau
Du damit eigentlich meinst

Denn in was sollte Deine Tiefe,
die ich so sehr schätze und mag, gründen,
wenn nicht in etwas, das ihr Halt
weil Erdung und Weite verleiht

Und was
sollten Deine „schlechten Seiten“ anderes sein
als helle Schatten bei Licht:
die Gründe dafür eben,
dass die „guten“ zu jenen wurden, die sie heute sind;
ihr Anlass, ihre Motivation
oder zu ihren Gunsten nicht gelebtes Potential

Ist, so frage ich Dich,
dann aber
Deine Weite
nicht Deiner Tiefe synonym
wie letztlich all Deine Seiten
nur verschiedene Abstufungen
guter Seiten sind

Standard
Gedichte...

Die Freiheit, die sie meinen

Nächster Halt: Rüsselsheim.
Neben mir ein MP3-Player und ein Smartphone,
Samsung, glaube ich.
Mir gegenüber ein Smartphone
und daneben ein Notebook, HP.
Links von uns ein Notebook,
auf dem ein Video läuft.
Daneben ein Buch,
ihm gegenüber eine Zeitung,
Süddeutsche wohl,
und neben dieser ein Smartphone, erneut.

Tippen, tippen, hören, tippen,
umblättern, lesen, tippen, aufsehen,
auf die Uhr schauen, tippen.
Notebook-Arbeit, Notebook-Video,
Zeitung, Musik, Buch,
Smartphone-Spiele, Smartphone-Mails.
Tippen, tippen, arbeiten,
tippen, lernen, tippen, schaffen, tippen, tun.

Der Geist überall, nur nicht hier.
Mein Gott, sind wir »frei«.

Standard
Gedichte...

Am Fenster

Wenn ich alt sein werde
hat all das rückblickend betrachtet dann seinen Sinn?
Und wird es mein Sinn sein
oder jener des Lebens?
Werde ich es vermocht haben, den Sinn meines Lebens zu finden
und jenem des Lebens zu entsprechen hiermit oder hierbei?
Werde ich über heutige Angst lachen
oder wird heutiges Lachen mich einst ängstigen?
Werden meine Wunden zu Menetekeln, Leuchtfeuern
oder fruchtbarem Boden für heilsames Neues geworden sein?
Schmecken Freiheit und Frieden einmal nach Blut
oder wurden aus der Summe der nicht gekämpften Kämpfe gewebt?

Wenn ich alt sein werde
werden dann auch meine Gefühle
in die Jahre gekommen sein?
Wie tief ist dann noch mein Glück?
Von welcher Farbe wird Freude sein?
Wie schmeckt das Leid?
Riecht meine Trauer noch immer nach Meer?
Wird die Einsamkeit farb- und geruchlos geworden sein
oder wiegt schwer, fast wie Blei?
Und meine Liebe, wird sie noch tief sein und singen
oder weit, ein Orchester, das keiner Tiefe mehr bedarf?
Wird sie noch knabenhaft-neckisch sein, neugierig, verspielt
oder am Stock gehen, vorsichtig tastend, ein Monokel vorm Gesicht?

Wenn ich alt sein werde
werden dann noch immer des nächtens die Fragen zu mir kommen
und an die Fenster hämmern
auf dass ich nicht zu schlafen vermag?
Oder werden auch sie älter und bedächtiger geworden sein
und leiser klopfen
oder trommeln
wie der Regen vielleicht?
Oder werden sie gar
mit den Antworten zusammen gekommen, womöglich verpartnert sein,
wohnen in einem Haus in der Nachbarschaft
und schauen nur noch gelegentlich einmal
vielleicht zum Tee
bei mir vorbei?

Standard
Seelisches...

Kritik der Psychologie

“Vor kurzem sagte mir eine Frau einmal: Ich gehe mit meinem Mann auf die Straße und ich sage zu ihm: Die Schneeglöckchen sind traurig. Und dann sagt er zu mir: Was Du schon wieder hast, die wachsen da. Dann gab es Streit. Drei Wochen danach kam die Frau in Psychotherapie und später in die Psychiatrie. Sie hatte ein letztes Mal den Versuch unternommen, ihrem Mann zu sagen, wie sie sich fühlt. Sie hat nie gelernt, Gefühle mitzuteilen. Hätte sie es gekonnt, würde sie gesagt haben: Ich bin wie eine blühende Blume, voller Schönheit, voller Lebensmöglichkeiten, aber es liegt auf mir wie gefrorene Tränen. Und der Grund aller Kälte bist Du, mein Mann, der kein einziges Gefühl versteht. Dieser Mann ist ein ordentlicher Bürger, er tut täglich seine Pflicht, er ist im Pfarrgemeinderat, ein unbescholtener Christ, eine Seele von Mensch, ein Muster der Verantwortung, ein Herr Karenin par excellence. Aber noch wie er reagiert und seine Frau zurechtweist, bestätigt er genau das, was sie andeutet: Die wachsen da, heißt so viel wie: Halt das Maul. Fang nicht schon wieder an. 2 x 2 = 4, Blumen sind nicht traurig und Du hast kein Recht, traurig zu sein. Erstens bist Du keine Blume und zweitens mache ich alles richtig. […] Es gibt zur Beglückung der Menschheit [hingegen] nichts Besseres, als dass Sie sich selber erlauben, ein bisschen glücklicher zu werden. Und dafür sind […] Gefühle notwendig.”

(Eugen Drewermann am 18.12.1996 in der Gethsemanekirche, Berlin)

“Die Kranken, das sind die Gesunden. Und die Gesunden, das sind in Wirklichkeit die Kranken.”

(Erich Fromm)

Ich trage große Wut in mir. Es ist schwer, das zu erklären, aber ich will es versuchen: Ich habe in den letzten Monaten ziemlich viele Bücher gelesen, ziemlich viel erlebt, ziemlich viel Elend gesehen und ziemlich viele Psychologen erlebt, wie sie sich dieses Elends annahmen bzw. anzunehmen meinten. Leider nur, so muss ich sagen: in der Regel auf eher fragwürdige Art und Weise. Und das macht mich wütend.

Warum dem so ist, will ich im Folgenden kurz skizzieren. Anhand einiger Beispiele, die deutlich machen sollen, warum vieles an vermeintlicher „Hilfe“ wohl eher schadet als nützt.

Weiterlesen

Standard
Fremdes...

Über die Dörfer

Spiele das Spiel. Gefährde die Arbeit noch mehr. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts. Sei weich und stark. Sei schlau, laß dich ein und verachte den Sieg. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen. Sei erschütterbar. Zeig deine Augen, wink die andern ins Tiefe, sorge für den Raum und betrachte einen jeden in seinem Bild. Entscheide nur begeistert. Scheitere ruhig. Vor allem hab Zeit und nimm Umwege. Laß dich ablenken. Mach sozusagen Urlaub. Überhör keinen Baum und kein Wasser. Kehr ein, wo du Lust hast, und gönn dir die Sonne. Vergiß die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, mißachte das Unglück, zerlach den Konflikt. Beweg dich in deinen Eigenfarben, bis du im Recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird. Geh über die Dörfer. Ich komme dir nach.

Peter Handke: Über die Dörfer, S. 20f.

Standard