Seelisches...

Kritik der Psychologie

“Vor kurzem sagte mir eine Frau einmal: Ich gehe mit meinem Mann auf die Straße und ich sage zu ihm: Die Schneeglöckchen sind traurig. Und dann sagt er zu mir: Was Du schon wieder hast, die wachsen da. Dann gab es Streit. Drei Wochen danach kam die Frau in Psychotherapie und später in die Psychiatrie. Sie hatte ein letztes Mal den Versuch unternommen, ihrem Mann zu sagen, wie sie sich fühlt. Sie hat nie gelernt, Gefühle mitzuteilen. Hätte sie es gekonnt, würde sie gesagt haben: Ich bin wie eine blühende Blume, voller Schönheit, voller Lebensmöglichkeiten, aber es liegt auf mir wie gefrorene Tränen. Und der Grund aller Kälte bist Du, mein Mann, der kein einziges Gefühl versteht. Dieser Mann ist ein ordentlicher Bürger, er tut täglich seine Pflicht, er ist im Pfarrgemeinderat, ein unbescholtener Christ, eine Seele von Mensch, ein Muster der Verantwortung, ein Herr Karenin par excellence. Aber noch wie er reagiert und seine Frau zurechtweist, bestätigt er genau das, was sie andeutet: Die wachsen da, heißt so viel wie: Halt das Maul. Fang nicht schon wieder an. 2 x 2 = 4, Blumen sind nicht traurig und Du hast kein Recht, traurig zu sein. Erstens bist Du keine Blume und zweitens mache ich alles richtig. […] Es gibt zur Beglückung der Menschheit [hingegen] nichts Besseres, als dass Sie sich selber erlauben, ein bisschen glücklicher zu werden. Und dafür sind […] Gefühle notwendig.”

(Eugen Drewermann am 18.12.1996 in der Gethsemanekirche, Berlin)

“Die Kranken, das sind die Gesunden. Und die Gesunden, das sind in Wirklichkeit die Kranken.”

(Erich Fromm)

Ich trage große Wut in mir. Es ist schwer, das zu erklären, aber ich will es versuchen: Ich habe in den letzten Monaten ziemlich viele Bücher gelesen, ziemlich viel erlebt, ziemlich viel Elend gesehen und ziemlich viele Psychologen erlebt, wie sie sich dieses Elends annahmen bzw. anzunehmen meinten. Leider nur, so muss ich sagen: in der Regel auf eher fragwürdige Art und Weise. Und das macht mich wütend.

Warum dem so ist, will ich im Folgenden kurz skizzieren. Anhand einiger Beispiele, die deutlich machen sollen, warum vieles an vermeintlicher „Hilfe“ wohl eher schadet als nützt.

Die Symptome als Krankheit verstehen – und das eigentliche Problem ignorieren

Da ist zum einen die Tatsache, dass vielen Menschen mit emotionalen Problemen einfach Tabletten verabreicht werden. Die Symptome werden behandelt, die Ursache oft nicht. Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass derlei Vorgehen in Summe zu einer Verschlechterung der Gesamtproblematik führt. Und dass derlei Medikamente (Psychopharmaka) daher einzig dann eingesetzt werden sollten, wenn eine akute emotionale Notlage zu konstatieren ist – und dann auch nur für den Zeitraum eben dieser. Wo sie länger eingesetzt werden, verhindern sie das, was so dringend notwendig wäre. Nämlich, dass der problembeladene Mensch zu sich kommt, sich selbst zu spüren beginnt, seine Gefühle, statt sie weiter zu verdrängen, abzuschalten oder zu verleugnen, wahrzunehmen sowie als Freunde und Helfer anzuerkennen lernt, dass er, statt ihn mit Medikamenten zu unterdrücken, durch seinen Schmerz geht und am Ende dieses Prozesses gelernt hat, auf sich und seinen Körper sowie dessen Signale zu achten, seine Seele und Belastungsgrenzen ernst zu nehmen statt sich weiter zu verbiegen und der Welt als Opfer darzubieten. Psychopharmaka bewirken jedoch das genaue Gegenteil: Sie dissoziieren – eben die Symptome, die Körper und Seele aussenden, um zur Veränderung aufzufordern; die Symptome, die eben die notwendigen Wegweiser in und durch das Problem sowie hiernach aus diesem heraus sind:

„Eine Behandlung mit Medikamenten führt in vielen Fällen lediglich zu einer Linderung [der] […] Beschwerden oder zu einer zeitlich begrenzten Beschwerdefreiheit, da die Medikamente die Ursachen der Symptome nicht beseitigten. Bei weiter anhaltendem Stress können trotz symptomatischer Behandlung die Krankheitssymptome persistieren oder auch zunehmen. Ein grundlegender Wandel bezüglich der Stressproblematik kann nur über bewusstes Wahrnehmen [im Sinne von Fühlen] der Stressoren und der mit diesen verbundenen emotionalen Muster sowie das Erlernen neuer emotionaler Umgangsweisen entstehen.“

Dr. Gerhard Zimmermann

Opfer zu Tätern: Verantwortlich für sein Scheitern ist immer der Betroffene selbst

Und da ist zum anderen die Tatsache, dass die Psychologie, insbesondere die Verhaltenstherapie, nichts anderes proklamiert als: „An Deinem Leiden bist Du selber schuld. Übe einfach nur genug ‚Selbststeuerungskompetenz‘ ein, dann kommst Du klar. Wenn Du nicht klarkommst, hast Du einfach noch nicht genug geübt, Dich nicht genug angestrengt.“ Diese Proklamation begeht jedoch zwei Verbrechen an den betroffenen Menschen.

Erstens macht sie – zumindest strukturell – die Opfer zu Alleinverantwortlichen und -tätern an sich selbst und entlässt Gesellschaft und sozialen Kontext aus der entsprechenden Verantwortung. Eines steht dann gar nicht erst im Raum: Die Frage nämlich, wie viele Jahre an Ruhe, Muße und Zeit, wie viele Personen zur Unterstützung und welche Wertschätzung in welchem sozialen Umfeld die Betroffenen eigentlich bräuchten, um die notwendigen Gelingensbedingungen vorzufinden, die sie de facto brauchen, um sich selbst das zu geben und geben zu können, was ihnen in der Regel ihr ganzes Leben lang vorenthalten worden ist: Den Glauben an sich, ihr Recht zu leben und glücklich zu sein sowie das Wissen darum, dass sie wichtig, wertvoll und liebenswert sind, auch wenn sie sich einmal abgrenzen, zur Wehr setzen, „Nein“ sagen. Dieses tumbe „Kümmere Dich um Dich selbst“ ist dabei ob der Negation der Tatsache, dass Lernen immer Erfahrungslernen ist und Menschen niemals losgelöst von den sie umgebenden Rahmenbedingungen irgendetwas vermögen, schlicht eines: asozial. Und es ist zugleich Herrschaft und Druck: Der Zwang nämlich, sich einzufügen und die Verantwortung für sich und das eigene Leiden allein auf sich und seine (vermeintlich fehlende) „Selbstregulationsfähigkeit“ zu nehmen; ein Anspruch, an dem das Scheitern bereits vorprogrammiert und der deswegen auch gefährlich für die Betroffenen ist, scheitern sie mit ihm im Gepäck doch mutmaßlich wieder einmal am eigenen Unvermögen, der eigenen Minderwertigkeit, was in Folge ihre seelischen Probleme sicher nicht kleiner, sondern größer werden lässt, denken und glauben sie erst einmal bspw.: „Ich habe es nicht geschafft, ich war wieder einmal nicht gut genug, ich vermag es nicht, mich genesen zu lassen, dabei sollte ich es doch vermögen, habe mich so sehr angestrengt und alles mir irgend Mögliche getan, verdammt, andere schaffen es doch auch…!“. Hinter derlei „Selbstverantwortlichmachung“ steckt dabei durchaus System:

„Mit der Erhebung des Subjekts zum (potenziellen) Konfliktmanager der widersprüchlichen Anforderungen, welche seine innere Dispositions- oder Motivationslage und die äußere Welt an den Menschen stellen, hat sich die Psychologie eine ideologische Allzweckwaffe geschmiedet, die es ihr erlaubt, alle Weisen des Nichtzurechtkommens des Menschen in der Welt, alle Formen der Unzufriedenheit mit seiner Stellung in der Gesellschaft einschließlich des gesamten Repertoires gesellschaftlich unerwünschter abweichender Verhaltensweisen als Ausdruck einer mangelnden Steuerungskompetenz des Subjektes zu deuten. Vom notwendigen Misserfolg der Mehrheit der bürgerlichen Konkurrenzsubjekte in der Schul- und Berufswelt, über die privaten Katastrophen in Sachen Liebesglück und Familie bis hin zu Drogenabhängigkeit und Kriminalität: Für alle Erscheinungsformen des Scheiterns des Menschen an oder des Ausbrechens aus der bürgerlichen Gesellschaft machen Psychologen gleichermaßen und ziemlich einseitig ein fehlerhaftes Verhältnis des Subjekts zu sich selbst verantwortlich. Der Mensch scheitert nach dieser Diagnose niemals an den Zwecken und Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft. Ihm mangelt es vielmehr an den notwendigen Konfliktbewältigungsstrategien, an der erforderlichen Frustrationstoleranz oder einer funktionierenden Triebkontrolle. Er leidet an defizitärem Realitätsbezug, überzogenen Ansprüchen an die Gesellschaft, der fehlenden Einsicht in seine individuellen Möglichkeiten und Grenzen oder umgekehrt am fehlenden Glauben an sich selbst und seine Fähigkeiten. Gemäß dieser Sichtweise verdanken sich die Niederlagen in der schulischen Konkurrenz des Leistungslernens nicht etwa der Selektivität des Schulsystems, sondern allein der fehlenden Lernfähigkeit der als ‚Schulversager‘ titulierten Betroffenen. Kriminalität hat nichts damit zu tun, dass die zugelassenen Erfolgswege der bürgerlichen Gesellschaft nur für eine Minderheit der Gesellschaftsmitglieder ein Leben ohne finanzielle Sorgen vorsehen, sondern zeugt ausschließlich vom Unvermögen, sich in die zugewiesene Lebenslage klaglos einzufügen und das Beste daraus zu machen. Die Menschen scheitern also qua psychologischer Definition niemals an den Anforderungen der Gesellschaft, die sie nicht erfüllen können. Psychologen kommen in ihren Erklärungen vielmehr auf den ewiggleichen Befund des Versagens des Individuums an seiner Aufgabe, die ihm vorgegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu bewältigen.“

Albert Krölls: Kritik der Psychologie. Das moderne Opium des Volkes, S. 40f.

Gefühle ignorieren, übergehen, abspalten – statt integrieren und genesen hierdurch

Zweitens, und hieran sieht man, wie wenig – zumindest in Teilen – die Psychologie überhaupt den Gegenstand ihrer Betrachtungen durchdringt und versteht, macht sie die (Selbst-)Heilung auch noch zu einer Sache des Willens bzw. suggeriert den Betroffenen dies. Und genau das ist fataler Quatsch. Menschen mit Angststörungen, Depressionen etc. leiden eben darunter, daran und deshalb, dass bzw. weil sie sich ihr ganzes Leben selbst zu allem zwingen, sich unter Druck setzen und anpassen, um nicht anzuecken; daran, dass sie sooft nur „funktionieren“ (mussten), dass ihr Wille ein „Anpassungs-“ und „Überlebenswille“ und eben kein angstfrei, selbstsicher und auf eigenem, freien und in allen menschlichen Gefühlen sicher fundierten Entscheiden gründender Selbstbehauptungs- und -entwicklungswille ist. Wer ihnen daher nun proklamiert: „Reiß Dich zusammen, dann geht das schon!“, der stößt sie erneut in einen Kreislauf, der nur zu schaden vermag. Den Kreislauf aus: Wenn Du nur wolltest, ginge es schon! Pass Dich an, reiß Dich zusammen! Das Resultat wird in der Regel sein, dass die betroffenen Menschen wieder einmal (statt auf sich selbst und nur auf sich selbst zu hören) falschen Autoritäten folgen, deren Mantren internalisieren, sich „zusammenreißen“, gegen den eigenen Körper und die eigene Angst agieren, versuchen, sich mittels Willen (der aber nicht der tief verwurzelte, sichere, wirklich eigene ist, denn den gölte es erst noch zu entwickeln, und der agierte niemals unbedacht wider den eigenen Körper, über die eigene Kraft, überginge nie einfach ein berechtigtes Gefühl, ohne zuvor zu fragen, was es zu sagen versucht, und dies dann zu beachten und berücksichtigen) zu zwingen, „anders“ zu werden und sein, als sie es im Moment sind – und hierbei schließlich scheitern, weil Druck und Anpassung nicht zum Ziel führen können, eben nicht Lösung, sondern immanenter Teil des Problems sind:

„Es dauert lange, bis der depressive Mensch zu ahnen beginnt, dass jeder gescheiterte Versuch, anders zu leben, nur die Erschöpfung steigert, und die Zuversicht mindert. Der Glaube, es noch einmal zu schaffen und unbelasteter leben zu können, verschwindet langsam und der Wille weiterzuleben wird immer schwächer. […] [Die] Anstrengungen und Mühen haben ihren Preis. Wann immer er wieder einen Ausstieg versucht, zeichnet ihn das und macht ihn schwächer. Die Ausgangsbedingungen werden so immer schlechter.“

Josef Giger-Bütler: „Jetzt geht es um mich“. Die Depression besiegen – Anleitung zur Selbsthilfe, S. 10f.

Mehr oder minder wiederholt die Psychologie hier den Missbrauch, der vielen Patienten in ihrer Kindheit angetan wurde: Sie mussten nur funktionieren, es ging nie um sie, sie wurden „fremdbestimmt“ und lernten nie die Drehung um das eigene Selbst, das Wollen aus eigenem Antrieb und eigener Kraft. Das ist … nicht asozial, sondern in seiner Wirkung vielmehr zynisch und menschenverachtend. Aber für eine andere Behandlung bräuchte es, ich sagte es bereits: Zeit, Liebe, Zuwendung, Wertschätzung, Personal – sowie vor allem: den Willen, Menschen dazu zu befähigen, wirklich sie selbst zu sein, sich zu artikulieren und vertreten, nicht einfach zu gehorchen, sondern, wo notwendig, immer auch zu widerstehen. Aber, ehrlich: Wer will derlei in dieser Gesellschaft, will es wirklich?

In Summe: Nichts verstanden und den Menschen an sich selbst vorbei therapiert

Übel wird mir jedenfalls, wenn ich erlebe, wie Menschen mit Angststörung geraten wird, sich ihrer Angst einfach zu stellen, sie auszuhalten und ggf. sogar anzunehmen. Das ist pervers. Und zwar nicht nur insofern, als dass die Devise lautet: „Tue Dir selber weh!“ Nein, vor allem insofern, als dass die Devise weitergeht mit: „Und auch wenn Du es nicht verstehst und nicht gut findest, mache weiter damit – dann wird der Schmerz, wird die Angst vielleicht irgendwann weniger…“ Das halte ich in Bezug auf komplexe Ängste nicht nur für schlicht ausgeschlossen; die Frage ist aber vor allem, was hier eigentlich erreicht werden soll. Meine These: Entweder ein Gewöhnen an permanente Angst oder aber ein Brechen eigener und begründeter Widerstände gegen Situationen, die in aller Regel aus guten biografischen Gründen heraus als angsteinflößend erlebt werden, eine „Vergewaltigung“ der eigenen Gefühle und Negation der eigenen Erfahrungen also. Bereits aus einem Meter Abstand scheint derlei „Hilfe“ dann auch kaum mehr etwas mit den Betroffenen, Nächstenliebe oder anderem zu tun zu haben; da wird offenbar, dass sie wohl einzig dazu dient, Menschen schnell und auf ihre eigenen Kosten wieder in eine wie auch immer geartete Funktionalität zu überführen – ob und wie sie in sich drinnen dabei ggf. leiden, ist egal, Hauptsache, sie arbeiten hiernach wieder und sind erneut funktionales Rädchen im Getriebe der Welt. Würde man die Menschen hingegen ernst nehmen, käme man zu Erkenntnissen, die eine andere Behandlung, eine andere „Hilfe“, dann aber eine, die diesen Namen auch verdiente, notwendig macht.

Da ist zum ersten die Erkenntnis, dass Angst purer Stress ist, und Stress kostet Kraft und macht krank. Wer also in bzw. mit seiner Angst lebt, „verbrennt“ vor lauter Energieaufwand, agiert gegen sich selbst. Der Dreischritt aus Verstehen-Annehmen-Überwinden, das, was mit Angst eigentlich geschehen müsste, bleibt bei dieser „Heilung“ à la „Konfrontiere Dich“ schlicht außen vor, ja, muss es sogar, denn Verstehen kostete, und das will man ja nicht, Zeit – und die ist Geld… Wer aber sich selbst nicht versteht, überwindet auch nichts. Ich will auf Folgendes hinaus: Menschen, die soziale Ängste haben, zu veranlassen, sich unter Menschen zu begeben, stresst sie, kostet sie immens Kraft. Ja, es lehrt sie ggf. auch, dass sie in der sie ängstigenden Situation nicht sterben, wenn sie sie aushalten. Aber gewonnen haben sie damit noch wenig bis nichts: Sie verbleiben in einem kräftezehrenden Übererregungszustand und verstehen und integrieren eines ihrer wichtigsten Gefühle nicht, ja, miss- statt beachten es fortan womöglich nun sogar, und übergehen mit diesem schließlich wieder sich selbst. Herauskommen wird dann „im Idealfalle“ ein Mensch, der äußerlich vielleicht wieder funktioniert, der aber den Autoritäten glaubt, dass, wenn er weiter Angst hat, was der Fall sein wird, er entweder mit dieser zu leben lernen oder aber sich nur mehr „anstrengen“, sich noch mehr selbst ängstigen muss, um sie loszuwerden. Derlei „Hilfe“ scheint mir doch vor allem ihre Entsprechung darin zu haben, einen Ertrinkenden unter die Wasseroberfläche zu drücken, damit er dort das Atmen zu erlernen vermag.

Und da ist zum anderen, und damit komme ich zu des Pudels Kern, die Erkenntnis: Alle Ängste haben einen Grund, ein Fundament. Wer sich ihnen stellen will, um sie schließlich zu überwinden und hierdurch menschlich wie emotional zu wachsen und reifen, der muss die Ursachen seiner Ängste erforschen, verstehen und sich hierzu verhalten. Gefühle haben Appellcharakter – und auch hinter einer sozialen Angst steckt ein Appell. Nicht selten wird es etwa der folgende sein: „Sie haben Dich Deine ganze Kindheit über gedemütigt, kleingemacht, stigmatisiert und ausgelacht; höre auf, die Lügen der Autoritäten von einst weiter zu glauben und Dich selbst so zu behandeln, wie Du einst behandelt worden bist. – Werte Dich nicht mehr selbst ab! Entdecke Deine Königswürde, Du bist ein besonderer, wertvoller Mensch. Mache Dich unabhängig von den Lügen der Vergangenheit, die Dich auch heute noch ängstigen, isolieren und frieren lassen.“ Ganz sicher sagt das Gefühl nicht: „Gehe in die Welt hinaus, ignoriere als erstes Deine Selbstablehnung, als zweites, dass Du diese von Deiner Umwelt gespiegelt bekommen wirst, und als drittes Deine berechtigte Angst eben hiervor.“ Und selbst, täte es dies: Persönliche Freiheit und Emanzipation sähen anders aus.

Ich will es kurz machen: Im skizzierten Falle liegt Heilung sicher nicht darin, die Angst, die nur ein Symptom einer viel tieferen Verletzung ist, symptomatisch zu behandeln und Menschen, die das Leben lehrte, sich selbst zu hassen, dazu zu bringen, sich nun in dieser Verfassung beliebig unter Menschen, die ihnen Angst machen und machen müssen, so lange sie „zu recht“ befürchten, mittels Konfrontation mit diesen an ihrer alten Wunde berührt zu werden, mittels Kritik oder Abwertung also gespiegelt zu bekommen, dass sie wirklich hassenswert sind, zu begeben. Heilung kann nur darin liegen, den Ursprung sowie die Berechtigung der eigenen Angst zu verstehen und anzunehmen – und in Verständnis für sowie zunehmender Liebe zu sich selbst in winzigen Schritten und nur bei Vorhandensein eigenen Wollens und eigener Kraft schließlich auf sie zuzugehen, um sie zu überwinden. Ein seelisch gesunder Mensch hat gelernt, dass all seine Gefühle wichtig und ernst zu nehmen sind, hat die Angst integriert und hört fortan auf sie – anstatt sie und somit weiterhin sich selbst, an diesem Punkt scheint mir jede Wiederholung von pädagogischem Wert, einfach zu übergehen. Denn: Wer seine Gefühle und damit sich selbst übergeht, wird krank. Hierzu aufzufordern oder verleiten, ist insofern auch niemals wirkliche Hilfe, sondern erneute Schädigung.

Das aber kann und will eine Gesellschaft, die darauf errichtet ist, Menschen in ihrer Ganzheit und Tiefe, in ihrem Gewordensein und ihrer Bedingtheit zu übersehen und also übergehen, wohl nicht sehen oder verstehen. Wo kämen wir schließlich auch hin, wenn der Arzt dem Bettler begegnete als sei dieser der König – oder der Psychologe dem seelisch Bedürftigen parteilich in dessen Sinne als guter Freund zur Seite stünde? Nein, wenn wir damit anfingen, womöglich die Idee weiterverfolgten, dass einige hundert Plätze an der Sonnenseite des Lebens zu wenig für ein Land mit Millionen Einwohnern wären – nein, nein, wenn wir diese Idee weiterverfolgten, dann säßen womöglich bald Millionen in der Psychiatrie und hätten einige hundert zwar Sonne, aber keine Butter mehr aufs Brot. Aber das ist eine andere Geschichte. Und für hier und heute sowie diesen „Sachzusammenhang“ ist sie schlicht zu skurril. Aber vielleicht schreibe und erzähle ich sie ein anderes Mal…


Literatur:

Thematischer Einstieg

Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst – Eine Um- und Fortschreibung
Alice Miller: Die Revolte des Körpers
Fritz Riemann: Grundformen der Angst: Eine tiefenpsychologische Studie

Kritik der Psychologie

Albert Krölls: Kritik der Psychologie. Das moderne Opium des Volkes
Michael Märtens/Hilarion Petzold (Hg.): Therapieschäden – Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie
Dörte von Drigalski: Blumen auf Granit. Eine Irr- und Lehrfahrt durch die deutsche Psychoanalyse
Elisabeth Reuter: Gehirn-Wäsche. Macht und Willkür in der »systemischen Psychotherapie« nach Bert Hellinger

Kritik der Psychopharmaka

Antidepressiva Forum Deutschland: Problematik moderner Antidepressiva
Marcia Angell: Der Pharma-Bluff – Wie innovativ die Pillenindustrie wirklich ist
Josef Zehentbauer: Chemie für die Seele. Psyche, Psychopharmaka und alternative Heilmethoden
Peter Lehmann: Der chemische Knebel. Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen
Peter Lehmann (Hg.): Psychopharmaka absetzen. Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern

Hintergründe zum Thema Depression

Josef Giger-Bütler: »Sie haben es doch gut gemeint« – Depression und Familie
Josef Giger-Bütler: »Endlich frei« – Schritte aus der Depression
Josef Giger-Bütler: »Jetzt geht es um mich«. Die Depression besiegen – Anleitung zur Selbsthilfe
Josef Giger-Bütler: Depression ist keine Krankheit – Neue Wege, sich selbst zu befreien

Sonstige Hintergründe

Heinz-Peter Röhr: Ich traue meiner Wahrnehmung – Sexueller und emotionaler Missbrauch
Heinz-Peter Röhr: Wege aus der Abhängigkeit: Destruktive Beziehungen überwinden
Heinz-Peter Röhr: Weg aus dem Chaos: Die Borderline-Störung verstehen
Heinz-Peter Röhr: Narzißmus: Das innere Gefängnis
Heinz-Peter Röhr: Die Angst vor Zurückweisung: Was Hysterie wirklich ist und wie man mit ihr umgeht

Gesellschaftlicher Kontext

Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität – Realismus als Krankheit: eine grundlegende Theorie zur menschlichen Destruktivität
Arno Gruen: Verratene Liebe – Falsche Götter
Arno Gruen: Der Fremde in uns
Arno Gruen: Der Verrat am Selbst – Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau

Standard

6 Gedanken zu “Kritik der Psychologie

  1. Rani schreibt:

    Gut – ich fange zu schnurren an bei diesem Artikel…! 😉
    Es ist einiges “faul im Staate Dänemark” (wahlweise: Deutschland, frei nach Shakespeares Hamlet) – verkrustete Strukturen, Macht von Lobbyisten: Man könnte meinen, dass Selberdenken und Sichwehren unerwünscht sind…

  2. Ich schulde dir ja noch eine antwort. Und bin immer noch zu müde dazu, zu müde ohne dialogische hilfe zu denken und zu denkend zu tippen. Ich schiebe es auf für das persönliche gespräch, schiebe es also richtung: möglicherweise einmal eintretende soziale situation, in der es sich ergibt und weniger anstrengend ist.

    Anyway, was du da alles zusammenfasst an hebeln, ansätzen, perspektivenwechseln und irrwegen, das hatt/hätte viel mit meiner antwort zu tun. “Durch den Schmerz gehen” schreibst du; und das in klarem kontext. In dem sinne musste ich – und muss ich weiterhin – durch den schmerz, durch die bitterkeit, durch die wut, durch die hilflosigkeit, durch den hass gehen. Nach dem wahrnehmen, akzeptieren, anschauen, befragen und zurückverfolgen der schmerzen, war es schon etwas leichter, ich war geübter, die bitterkeit wahrzunehmen, zu akzeptieren, anzuschauen, zu befragen und zurückzuverfolgen. Als ich so weit war – mit hilfe von außen – den hass zu sehen, und das war der absolut größte schock, auf den ich im gegensatz zu den anderen erfahrungen nicht vorbereitet war, da war das zwar eine mich eine geraume zeit lang überwältigende erschütterung, aber das muster “wie damit umgehen?” war immerhin schon klar. Akzeptieren, ins auge schauen, durch den “hass durchgehen”, mit dem hass ihm auf den grund gehen, und wenn der weg dorthin lange zeit wie bodenlos wirkt. Das muster war mir weniger “bekannt” als dass es schon in arbeit war, internalisiert, erprobt, automatisiert. Die prozesse des “durch x und y durchgehen” sind allesamt noch nicht an ihr ende, ihren abschluss, an eine finale bewältigung gekommen. Gleichzeitig bewältige ich. Diese prozesse zumindest. Woran ich seither eher scheitere, ist durch die erschöpfung durchzugehen. Mich immer und ununterbrochen weiter daran zu halten, die arbeit zu machen und nicht wegen der bodenlosen müdigkeit aufzugeben, die mich seit jahren gefangen hält und meine einzige umgebung, mein einziger mir bekannter zustand ist. Mit dem durch x und y durchgehen tritt bei mir im laufe dieser über jahre gehenden prozesse eine entspannung ein, eine entspannte befriedigung, ein manchmal und immer öfter wohliges gefühl, es zu schaffen und den weg gefunden zu haben, den größten teil hinter mir zu haben. Ich freu mich schon so auf den finalen ausstieg aus diesen prozessen, dass sich mein blick auf die antizipierte glückliche entspanntheit und ruhe richtet, während ich noch müde und ausgelaugt weitergehen muss, mühsame prozessabschnitte durcharbeitend, die gleichzeitig nicht irgendwie mit den existenziellen schwierigkeiten zurückliegender wegpassagen vergleichbar sind. Im feld zwischen ausgelaugtheit, weitergehen müssen, erwartung der himmlischen ruhe und zufriedenheit, die langen schwierigen passagen gemeistert zu haben, träume ich seit einem dreiviertel jahr immer mehr von aufgabe und jetzt schon himmlischer ruhe.

  3. Martin Großkopf schreibt:

    Lieber Jens,
    Deine Worte tuen gut. Ich schreibe Dir mein liebstes Zitat von Peter Hacks , weil es so schön die Dialektik vom Wesen der Individualität und seiner sozialen Bedingtheit wiedergibt. ” Es kommt nicht darauf an das einer alles kann, es kommt darauf an das in seinem Wesen kein Grund ersichtlich ist, weshalb er nicht alles können sollte.” Herzlichst, Martin

  4. Andreas Krödel hat geschrieben:

    Hallo Jens,
    ja, mich als ebenfalls Betroffenen interessiert dies absolut,
    ich habe den Text schon zwei mal gelesen, besser könnte ich das auch nicht formulieren, diesen Zwang aus Angst der durch noch mehr Zwang und Psychopharmaka “behoben” werden soll, den schafft Mensch eben nicht, und die Gesellschaft ist auch nicht daran interessiert, die “Schuldigen” bleiben immer WIR!
    Ich bin nun schon fast zwei Jahre tätig in einem Forum “ …. gegen Sozialabbau”, bundesweit, dort gibt es jede Menge Personen mit solchen Problemen, hättest Du etwas dagegen, wenn ich Deine Arbeit dort (ob mit Deinem Namen, als Pseudonym oder wie Du das auch wünschst) einstelle?

  5. Danke für diese klare und kritische Schilderung! Das “Du bist selbst schuld” ist leider tief verankert in uns. Viel zutreffender wäre ein “ich brauche Hilfe” – was aber auch bereits gegen unser Bild vom autonomen, selbststeuernden, sich selbst genügenden Menschen verstößt. Und sind wir endlich soweit, Hilfe zu suchen, begegnet uns oft wenig Hilfreiches.

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