„Ich glaube nämlich, dass der Träumer, mag er auch dem Mann auf der Straße noch so unpraktisch vorkommen, tausendmal fähiger und tüchtiger ist als der sogenannte Staatsmann.“
(Henry Miller: Rimbaud oder Vom großen Aufstand, S. 32)
„Diese Menschen sind offenbar in die Welt hineingeboren, damit sie um den Ausdruck ihrer innersten Geheimnisse ringen sollen.“
(Henry Miller: Rimbaud oder Vom großen Aufstand, S. 49)
„Und was ist das Wesen dieses Geheimnisses? Ich kann nur sagen, dass es etwas mit den Müttern zu tun hat. Ich habe das Gefühl, dass für Lawrence und für Rimbaud das Gleiche galt. Die ganze Aufsässigkeit, die ich mit ihnen teile, geht auf dieses Problem zurück, das, soweit ich das ausdrücken kann, in der Suche nach unserer wahren Verbindung mit der Menschheit besteht. Man findet sie weder im persönlichen, noch im kollektiven Leben, wenn man diesem Typ angehört. Man vermag sich so wenig anzupassen, dass man fast wahnsinnig wird. Man sehnt sich nach Seinesgleichen, ist aber von weiten, leeren Räumen umgeben. Man braucht einen Lehrer, doch es fehlt einem hierfür die Demut, die Schmiegsamkeit, die Geduld. Man fühlt sich auch bei den Großen im Geiste nicht heimisch, nicht behaglich; selbst die hochstehendsten erscheinen einem fehlerhaft oder verdächtig. Und doch hat man nur mit ihnen Berührungspunkte. Es ist das ein Dilemma erster Größe, ein Dilemma von höchster Bedeutung. Man muss den entscheidenden Unterschied seines eigenen besonderen Wesens begründen und hierdurch seine Verwandtschaft mit der ganzen Menschheit, selbst mit dem niedersten Menschenkinde, entdecken. Bejahung ist das Schlüsselwort. Aber Bejahung ist gerade der große Stein des Anstoßes. Sie muss vollständig sein und nicht in Konformismus bestehen.
Wodurch wird diesem Menschentyp die Bejahung der Welt so sehr erschwert? Wie ich jetzt sehe, durch den Umstand, dass in der Kindheit die gesamte dunkle Seite des Lebens, und natürlich auch des eigenen Wesens, unterdrückt worden war, und zwar so gründlich, dass man es nicht mehr erkennen konnte. Hätte man die dunkle Seite der Existenz nicht verworfen, argumentiert man unbewusst mit sich selber, wäre das gleichbedeutend mit einem Verlust der Individualität und vor allem der Freiheit gewesen. Freiheit geht Hand in Hand mit Differenzierung. Unter dem Heil ist in diesem Falle nur die Bewahrung der eigenen Identität zu verstehen; sie vollzieht sich in einer Welt, die alles und jedes zu nivellieren sucht. Die Furcht hat hier ihre Wurzel. Rimbaud bestand darauf, dass er in Freiheit erlöst werden wollte. Man wird jedoch nur erlöst, wenn man diese illusorische Freiheit preisgibt. Die Freiheit, nach der er verlangte, bestand in der hemmungslosen Bestätigung seines Ichs. Das ist aber keine Freiheit. Ist man in dieser Täuschung befangen, so kann man, wenn man lange genug lebt, jede Facette des eigenen Wesens ausspielen und immer noch einen Grund zur Klage, zur Rebellion finden. Eine derartige Freiheit gewährt einem das Recht zur Widerrede, notfalls zum Abfall. Sie berücksichtigt nicht die Unterschiede anderer Menschen, lediglich die eigenen. Sie wird niemals dazu beitragen, dass man seine Verbindung, seinen Zusammenhang mit der gesamten Menschheit herausfindet. Man bleibt für immer abgesondert, für immer isoliert. Alles das hat für mich eine einzige Bedeutung: dass man noch an die Mutter gebunden ist. Die ganze Rebellion sollte nur Staub in die Augen streuen, stellte den verzweifelten Versuch dar, diese Bindung zu verbergen. Menschen dieses Schlages sind stets gegen ihr Heimatland eingestellt; es ist ihnen unmöglich, anders zu handeln. Versklavung ist das große Schreckgespenst, mag es nun dabei um das Land, die Kirche oder die Gesellschaft gehen. Sie verbringen ihr Leben damit, Fesseln zu sprengen, aber die geheime Bindung zehrt sie innerlich auf und lässt ihnen keine Ruhe. Sie müssen mit der Mutter ins Reine kommen, bevor sie sich vom Albdruck der Fesseln befreien können. „Draußen, für immer draußen! So sitzen wir auf der Türschwelle des Mutterschoßes.“ Das sind, glaube ich, meine eigenen Worte in „Black Spring““, während einer goldenen Periode meines Lebens, als ich nahezu im Besitz des Geheimnisses war. Kein Wunder, dass man der Mutter entfremdet ist. Man nimmt sie lediglich als Hindernis wahr. Man braucht [aber] den Trost und die Sicherheit ihres Schoßes, jene Dunkelheit und Behaglichkeit, die für den Ungeborenen den gleichwertigen Ersatz für die Erleuchtung und Bejahung des wahrhaft Geborenen darstellt. Die Gesellschaft besteht aus verschlossenen Türen, aus Tabus, Gesetzen, Bedrückungen und Unterdrückungen. Man hat nicht die Möglichkeit, jene Elemente in die Gewalt zu bekommen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt und mit denen man arbeiten muss, wenn man jemals eine wahre Gesellschaft begründen will. Es ist ein ständiger Tanz am Rande des Vulkans. Man mag als großer Rebell gefeiert werden, aber man wird niemals Liebe begegnen. Und der Rebell muss mehr als jeder andere die Liebe kennen, sie schenken, mehr noch als sie zu empfangen, und sogar noch mehr Liebe sein, als sie zu schenken.“
Henry Miller: Rimbaud oder Vom großen Aufstand, S. 51 ff.
„Im Juli 1880 schrieb Van Gogh seinem Bruder einen jener Briefe, die den Kern der Dinge berühren und das Blut in Wallung bringen. […] In diesem Falle verteidigt sich Van Gogh gegen die Verleumdung des Müßiggangs. Er beschreibt eingehend zwei Arten des Müßiggangs, die üble und die förderliche Sorte. Der Brief ist eine regelrechte Predigt über dieses Thema, und es lohnt sich, dass man immer wieder zu ihm zurückkehrt. […] Dann geht er dazu über, zwischen dem Menschen, der aus Faulheit, aus Mangel an Charakter, infolge seiner niedrigen Natur müßig ist, und jener anderen Art eines Müßiggängers zu unterscheiden, der gegen seinen Willen träge ist; der innerlich von einem großen Tatendrang verzehrt wird; der ein Nichtstuer ist, weil es für ihn unmöglich ist, irgendetwas zu tun, usw. Er schildert den Vogel im goldenen Käfig. Und dann fügt er ergreifende, herzzerreißende, schicksalsschwere Worte hinzu:
‚Und die Menschen sind häufig durch die Umstände gehindert, etwas zu tun; sie sind Gefangene in irgendeinem entsetzlichen, entsetzlichen, ganz entsetzlichen Käfig. Es gibt auch, das weiß ich, die späte Befreiung. Ein zu Recht oder zu Unrecht zerstörter guter Ruf, die Scham, der Zwang der Verhältnisse, das Unglück – durch all das werden wir zu Gefangenen. Man vermag nicht immer zu sagen, was uns eigentlich einschließt, einmauert, was uns zu begraben scheint, aber man spürt doch irgendwelche Schranken, Gitter, Wände. Ist das alles nur Einbildung, Phantasie? Ich glaube nicht. Und dann stellt man die Frage: ‚Mein Gott, ist das für lange Zeit, für immer, für alle Ewigkeit?‘ Weißt Du, was einen von dieser Gefangenschaft befreit? Jede tiefe, ernsthafte Zuneigung vermag das. Freund sein, Bruder sein, lieben – das öffnet das Gefängnis mit aller Macht, durch Zauberkraft. Doch einer, der das nicht hat, bleibt im Gefängnis. Wo die Sympathie erneuert wird, kehrt das Leben zurück.‘”
Henry Miller: Rimbaud oder Vom großen Aufstand, S. 64 f.
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