„Die Realität des Lebens besteht aus Freude und Schmerz, Gelingen und Versagen, Befriedigung und Entsagung.“
Arno Gruen
„Der Wahrheit ins Auge zu sehen, ist schwer. Es hieße ja, sich in den Konflikt mit den Mächtigen und deren Wirklichkeitsdefinition zu begeben. Es hieße auch, sich gegen die Prinzipien der Eltern und deren falsche Realität zu stellen, die man sich einverleibt hat. Vor allem aber hieße es, der eigenen Unterwerfung und dem eigenen Selbstbetrug – damals wie heute – ins Auge zu sehen.“
Arno Gruen
Wir alle halten uns für aufrechte und vorurteilsfreie Zeitgenossen, die jedem Menschen die gleiche Würde und den gleichen Wert zusprechen. Doch seien wir ehrlich: Zollen wir nicht insgeheim jenen mehr Respekt, die uns mit den Insignien von Macht, Geld und Wissen entgegentreten? Sind wir nicht stolz darauf, wenn sie uns beachten und anerkennen?
Es ist ungeheuer schwer, mit seiner Vergangenheit zu brechen und diese Prägungen hinter sich zu lassen. Viele rebellieren in jungen Jahren und realisieren nicht, dass sie sich irgendwann genauso entwickeln wie ihre Eltern. Ich selbst habe mich als junger Mensch in vielerlei Weise gegen Autoritäten aufgelehnt. Ich verachtete Menschen, die sich anmaßten, über andere zu bestimmen. Ich ging auf Demonstrationen, verteilte Flugblätter, trat linken Vereinigungen bei. Trotzdem wurde mir eines Tage bewusst, dass ich insgeheim ausgerechnet von denjenigen, die ich kritisierte, für meine Gedanken und Analysen anerkannt und akzeptiert werden wollte. Absurderweise suchte ich die Zustimmung meiner Feinde. Gleichzeitig merkte ich, wie ambivalent meine Haltung zu Gleichgesinnten war. Natürlich, wir machten gemeinsame Sache. Aber irgendwie traute ich ihnen nicht. Ich spürte, auch zwischen uns war ein Machtkampf im Gange. Diejenigen, die in mir eine Leitfigur sehen wollten, lehnte ich ab. Ich wollte ja selbst nichts mit Macht und Machthaberei zu tun haben. Dabei konnte ich mich aber auch nicht als jemanden akzeptieren, der anderen etwas zu geben hat. Denn das hätte ja auch geheißen, mir eine eigene Kraft zuzugestehen, die mich Autoritäten ebenbürtig machte.
Etwas Derartiges geht vor sich, wenn jugendliche Rebellen ihre Ideale verraten und immer mehr mitmachen im „erwachsenen“ Gerangel um Macht und Besitz. Macht ist deshalb so verführerisch, weil sie zunächst als eine Kraft empfunden wird, die ein trügerisches Gefühl von Sicherheit vermittelt. Tatsächlich geht es jedoch um ein Überlegenheitsgefühl, das auf der Unterdrückung anderer basiert. Mit wahrer innerer Kraft hat dieses Machthaben nichts zu tun. Wahre Kraft entsteht durch das Erleben von Leid und Schmerz. Nur durch Leid und Schmerz lässt sich erfahren, dass Sicherheit ein Zustand in uns selbst ist, eine innere Kohärenz, die auch dann bestehen bleibt, wenn wir schwach und hilflos sind.
Dieses Gefühl, das auf einem Sich-selbst-Sein beruht, kann ein Mensch nur entwickeln, wenn er als Kind liebevoll in seinem Schmerzempfinden begleitet wurde. Nur durch eine solche einfühlsame und teilnehmende Begleitung ist es dem Kind möglich, seinen Schmerz zu erleben und die Erfahrung zu machen, dass dieser nicht tötet. Erst aus diesem Erleben erwächst ein Gefühl der Stärke, das von Dauer ist und sich nicht immer wieder im Wettstreit mit anderen beweisen muss. Eine solche innere Kraft ist wiederum Grundlage für unsere Fähigkeit, am Mitgefühl für andere festzuhalten. Gleichzeitig verstärkt unsere Fähigkeit zum Mitgefühl auch unsere innere Kraft. Wir erfahren auf diese Weise, dass wir anderen etwas geben können und dass auch Altruismus eine Quelle der Kraft ist.
Aus: Arno Gruen: „Ich will eine Welt ohne Kriege“
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