„Mama P. war eine große, kraftvolle Frau. Sie bewegte sich mit Zuversicht und Stärke. Sie trug ein weites Hawaiihemd in prächtigen Farben und ein Tuch um den Hals. Sie war wegen einem ihrer Pflegekinder zu einer ärztlichen Beratung gekommen. Es ging um den siebenjährigen Robert, der drei Jahre zuvor aus der Obhut seiner Mutter entfernt worden war. Sie war Prostituierte und während des gesamten Lebens ihres Sohnes kokain- und alkoholabhängig gewesen. Sie hatte den Jungen vernachlässigt und geschlagen. Er hatte miterlebt, wie seine Mutter von Freiern und Zuhältern geschlagen wurde, und wurde auch selbst von ihren Partnern terrorisiert und missbraucht. (….)
‚Was können Sie also tun, um meinem Baby zu helfen?‘, fragte sie. Dieser Satz fiel mir auf. Wieso nannte sie dieses siebenjährige Kind Baby? Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte.
Ich empfahl Clonidin, das Medikament, das ich bei Sandy und bei den Jungen im Zentrum angewandt hatte. Sie unterbrauch mich leise, aber bestimmt: ‚Sie werden meinem Baby keine Medikamente geben.‘ (…)
Und dann ergab ich mich. ‚Mama P., wie helfen Sie ihm?‘, fragte ich. Weshalb hatte sie keine Probleme mit seinen ‚Wutanfällen‘, derentwegen er von früheren Pflegestellen und Schulen verwiesen worden war?
‚Ich halte ihn nur und schaukle ihn. Ich liebe ihn einfach. Wenn er nachts verängstigt aufwacht und durchs Haus läuft, lege ich ihn neben mich ins Bett, reibe ihm den Rücken und singe ein wenig, dann schläft er wieder ein.‘ Jetzt warf mir der Kollege verstohlene Blicke zu, deutlich beunruhigt: Siebenjährige sollten nicht in einem Bett mit ihren Betreuungspersonen schlafen. Aber ich war neugierig geworden und hörte weiter zu.
‚Was scheint ihn tagsüber zu beruhigen, wenn er sich aufregt?“, fragte ich.
‚Dasselbe. Ich lasse einfach alles stehen und halte ihn und schaukele ihn im Sessel. Dauert nicht so lange, armes Ding.‘
Als sie das sagte, erinnerte ich mich an ein wiederkehrendes Muster in Roberts Akte. In allen Aufzeichnungen über ihn, einschließlich denjenigen, die zuletzt von der Schule weitergeleitet worden waren, berichteten aufgebrachte Mitarbeiter von ihrer Frustration über sein Zuwiderhandeln und sein unreifes, ‚babyhaftes‘ Verhalten und beschwerten sich über seine Bedürftigkeit und Anhänglichkeit. Ich fragte Mama P.: ‚Werden Sie nie frustriert und wütend, wenn er sich so benimmt?‘
‚Werden Sie ungehalten mit einem Baby, wenn ein Baby Theater macht?‘, fragte sie. ‚Werden Sie nicht. Es ist das, was Babys tun. Babys geben ihr Bestes und wir verzeihen ihnen immer, wenn sie sich bekleckern, wenn sie schreien, wenn sie uns vollspucken.‘“
Aus: Bruce D. Perry: Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde: Was traumatisierte Kinder uns über Leid, Liebe und Heilung lehren können, Seite 123 ff.
„Als Mama P. die traumatisierten und vernachlässigten Kinder schaukelte und hielt, die in ihrer Obhut waren, hatte sie intuitiv das getan, was zur Grundlage unserer neurosequentiellen Methode wurde: Diese Kinder brauchen musterartige, sich wiederholende Erfahrungen, die ihren Entwicklungsbedürfnissen angemessen sind; Bedürfnisse, die das Alter widerspiegeln, in dem sie wichtige Reize entbehrt haben oder traumatisiert worden sind, nicht ihr aktuelles, chronologisches Alter. Wenn sie in einem Schaukelstuhl saß und mit einem Siebenjährigen kuschelte, schenkte sie ihm die Berührung und den Rhythmus, den er als Säugling vermisst hatte – eine Erfahrung, die für die angemessene Entwicklung des Gehirns erforderlich ist. Es ist ein grundlegendes Prinzip der Hirnentwicklung, dass neuronale Systeme sich aufeinander folgend organisieren und funktionsfähig werden. Überdies baut die Organisation von weniger reifen Regionen teilweise auf ankommenden Signalen auf tiefer gelegenen, reiferen Regionen auf. Wenn ein System nicht zum richtigen Zeitpunkt bekommt, was es braucht, funktionieren möglicherweise auch die von ihm abhängigen Systeme nicht gut. Das gilt auch dann, wenn die Reize, die die sich später entwickelnden Systeme brauchen, tatsächlich in angemessener Weise angeboten werden. Der Schlüssel zu gesunder Entwicklung liegt darin, die richtigen Erfahrungen in der richtigen Menge zur richtigen Zeit machen zu können.“
Aus: ebd., Seite 178
„Wenn ein Kind ein starkes und unterstützendes Umfeld hat, ist es besonders wichtig, mit den kindlichen Bewältigungsmechanismen achtsam umzugehen. In einer Studie, die wir Mitte der 90er Jahre durchgeführt haben, fanden wir heraus, dass Kinder mit unterstützenden Familien, die für die Bearbeitung eines Traumas zur Therapie geschickt wurden, mit höherer Wahrscheinlichkeit eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln als diejenigen, deren Eltern angewiesen wurden, mit den Kindern nur dann zur Therapie zu kommen, wenn sie spezielle Symptome beobachten. Die wöchentliche Therapiesitzung, in der die Kinder sich auf ihre Symptome konzentrierten, trug eher zu einer Verschlimmerung bei als zu ihrer Auflösung. Die Kinder dachten regelmäßig in den Tagen vor ihrer Therapiesitzung über ihr Trauma nach; jede Woche mussten die Kinder die Schule oder außerschulische Aktivitäten verlassen, um in die Klinik zur Therapie zu fahren. In manchen Fällen wurden sich Kinder ihrer normalen Stress-Reaktionen überbewusst und beobachteten jeden Pieps gang genau, damit sie etwas hatten, das sie dem Therapeuten erzählen konnten. Das brachte ihr Leben durcheinander und vergrößerte ihre Not eher, als sie zu verringern. Interessanterweise war eine Therapie jedoch hilfreich, wenn das Kind kein starkes soziales Netz hatte. Sie bot ihm wahrscheinlich die Möglichkeit, sich jemandem anzuvertrauen, die es sonst nicht hatte. Entscheidend ist, dass die Bedürfnisse von Menschen variieren und dass niemand dazu gedrängt werden sollte, ein Trauma zu bearbeiten, wenn er es nicht möchte. (…) So haben zum Beispiel manche Studien gezeigt, dass eine Depression sich verschlimmern kann, wenn man über vergangene negative Erlebnisse nachgrübelt. Aufgrund der Arbeitsweise des Gedächtnisses kann dieses Sinnieren auch dazu führen, dass man alte, mehrdeutigen Erinnerungen in einem neuen Licht abruft, das mit der Zeit dunkler und dunkler wird, bis sich darin schließlich ein Trauma zeigt, das in Wirklichkeit nie stattgefunden hat.“
Aus: ebd., Seite 210 ff.
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