Vorwort:
„Es ist hohe Zeit, nicht nur von den großen Kriegen zu sprechen, sondern auch von dem kleinen Krieg, der den Alltag verwüstet und der keinen Waffenstillstand kennt: von dem Krieg im Frieden, seinen Waffen, Folterinstrumenten und Verbrechen, der uns langsam dazu bringt, Gewalt und Grausamkeit als Normalzustand zu akzeptieren. Krankenhäuser, Gefängnisse, Irrenhäuser, Fabriken und Schulen sind die bevorzugten Orte, an denen dieser Krieg geführt wird, wo seine lautlosen Massaker stattfinden, seine Strategien sich fortpflanzen – im Namen der Ordnung. Das große Schlachtfeld ist der gesellschaftliche Alltag. Was heißt das? Krankenhäuser und Pharmazeutika-Betriebe sind Quellen der Zerstörung.“
Franco Basaglia
Während die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zunimmt, die Armen ärmer und die Reichen reicher werden, vermelden die Bildungseinrichtungen immer mehr Kinder und Jugendliche mit so genannten Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen und Erkrankungen. Die Rede ist etwa von Dyskalkulie, Dyslexie, Legasthenie, Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), Eskapismus, Gewaltneigung, Hoch- oder Minderbegabung als jeweils individuell zugeschriebenen ›Eigenschaften‹. Der Sozial-Eugeniker Thilo Sarrazin schwadronierte unlängst sogar – man dachte ja, derlei Reden wären seit vielen Jahrzehnten vom Tisch – von genetisch vererbbarer Dummheit, die die »Bildungsfernen« zur gesellschaftlichen Last und Fördermaßnahmen daher sinnlos mache.
Inzwischen leidet, wer verträumt ist, an Cognitive Tempo Disorder (CTD). Und starke Gefühlsäußerungen gelten amerikanischen Psychologen als Disruptive Mood Dysregulation Disorder (DMDD), wie Dr. Bernd Hontschik in der Frankfurter Rundschau vom 17. Mai 2013 zu berichten weiß. Die Trauer über den Tod eines nahen Menschen gilt im neuen Handbuch Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders schon als Krankheit, wenn sie länger als 14 Tage währt. Auf Grund solcher und anderer Diagnosen werden Jahr für Jahr mehr Psychopharmaka verschrieben.
Und wir? Sind wir nicht inzwischen mitten drin und Teil dieser »pathologischen Wende« – auch und gerade in Pädagogik, Schule und Bildungssystem insgesamt? Wollen wir es dann einfach dabei belassen? Beobachtbares Problem. Diagnose. Zuschreibung eines Defizits bis in den Kern unseres Menschseins hinein. Individuelle Medikation und Therapie. Fertig. Das war‘s?
Sicher nicht! Wir haben es hier mit einem immer wiederkehrenden Muster zu tun. Es gibt Institutionen wie etwa die Schule, die vor ihren Aufgaben versagen, es gibt krankmachende gesellschaftliche Verhältnisse, die von zunehmender Konkurrenz und Abstiegsängsten geprägt sind. Folglich nimmt die Zahl der Menschen zu, die unter solchen Verhältnissen leiden, die hier nicht mehr mithalten können – oder wollen. Deren Verhalten gerät dann rasch außerhalb der gesellschaftlichen Normen. Hier intervenieren nun zunehmend akademische Ansätze, die exakt ein solches nicht-normgerechtes Verhalten als individuelles Versagen, persönliches Defizit oder gar individuelle Krankheit diagnostizieren – und damit pathologisieren. Die Gesellschaft selbst wird so entpolitisiert und als außer-individuelle statische Gegebenheit vorausgesetzt. Sie wird so der Veränderbarkeit in Richtung humanerer Lebensmöglichkeiten für viele entzogen. Der berühmte Vertreter der italienischen Anti-Psychatrie, Franco Basaglia, hat für diese Art Wissenschaft den Begriff der »Befriedungsverbrechen« geprägt und sie als »Dienstbarkeit der Intellektuellen« bezeichnet.
Genau diese Auseinandersetzung wollen wir mit unserer Veröffentlichung befördern. Es geht zum einen um die Kritik an solchen ›pathologisierenden‹ akademischen Dienstfertigkeiten. Es geht zum anderen um alternative wissenschaftliche (und wissenschaftskritische) Ansätze, die solche Kritik vertiefen und befördern – und damit in der Tradition einer Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung stehen, welcher sich der BdWi seit seiner Gründung verpflichtet fühlt.
Wenn Leben folglich aber Wachsen durch Umwelteinflüsse, gesellschaftliche Herausforderungen und Reagieren auf diese ist, dann ist Humanität stets kontextabhängig und – provoziert. Der Philosoph Martin Buber verlieh solchem Denken die Form: »Der Mensch wird am Du zum Ich.« Und Georg Feuser, Urgestein behindertenpädagogischer Lehre und Forschung, ergänzte: »Er wird zu dem Ich, dessen Du wir ihm sind.« Dieses »Du« meint dabei nicht nur Pädagoginnen und Pädagogen, Mitschülerinnen und Mitschüler, Mütter und Väter, sondern die gesamte Gesellschaft. Ist diese aber, so lautet unsere Frage, überhaupt kinder-, lebens- und entwicklungsfreundlich?
Ist sie menschenfreundlich? Ermutigt sie zu Spiel, Freude, Kreativität und Eigensinn? Verfügen Kinder in ihr über die Zuneigung, Wertschätzung und sichere Bindungen, die sie für
ideales Wachstum benötigen? Und wenn nicht, ist die Zahl von Kindern und Jugendlichen »mit Problemen« dann nicht womöglich ein Indikator für die gesellschaftlichen und individuellen Folgen von Stress, Konkurrenz, Leistungsdruck, Arbeitsentgrenzung, Abstiegsängsten und vielem anderem mehr? Ein Indikator für die zunehmende Beziehungslosig- und Sinnunfähigkeit unserer Zeit, an der auch viele Erwachsene leiden?
In diesem Sinne ist unsere Veröffentlichung zugleich Ermutigung wie Provokation. Provokation, weil die Autorinnen und Autoren viele übliche Erklärungsansätze des akademischen Mainstreams, die gesellschaftliche Verhältnisse ausblenden und soziale Problemlagen daher allzu oft personalisieren und also individualisieren, kritisch hinterfragen und die Thesen wagen, dass es Rechenschwäche, Rechtschreibschwäche, ADHS, Hochbegabung, Bildungsferne, geistige Behinderung sowie soziale Differenzen erklärende genetische Unterschiede zwischen Menschengruppen gar nicht gibt, sondern solche Konstrukte vielmehr Ablenkung vom Eigentlichen sind. Und Ermutigung, weil wir gemeinsam sehr wohl herausfinden können, was ein freudvolleres, lebenswerteres Leben ausmachen kann, das mehr auf Kooperation denn auf Konkurrenz ausgerichtet ist, mehr auf Ermutigung denn auf normierende Erziehung und mehr auf Neugier denn auf Leistungssteigerung.
Jens Wernicke, Torsten Bultmann
Inhaltsverzeichnis:
Ideologe und System
– Götz Eisenberg: Das abgesprungene Rad wieder an den Wagen montieren. Über die Aufgabe der Psychologie im flexiblen Kapitalismus
– Leonie Knebel: Intelligenzmessung als soziale Konstruktion von Ungleichheit
– Erich Fromm: Kranke Menschen oder kranke Gesellschaft?
– Christian Kreiß: Gekaufte Wissenschaft
– Rainer Roth: Über die Gerechtigkeitsillusion
Arm und Reich
– Torsten Bultmann: Bildung als Sozialinvestition
– Jens Wernicke: Armut macht krank und Krankheit macht arm
– Andreas Wöckinger: Bildung schützt vor Armut. Nicht?
Klug und Dumm
– Gerald Hüther: Hochbegabte gibt es nicht. Jedes Kind ist hoch begabt
– Andreas Kemper: »Hohe« Herkunft ergibt »hohe« Bildung? Zur Funktion vertikaler Denkmuster
– Jochen Krautz: Kompetenzen machen unmündig. Eine zusammenfassende Kritik zuhanden der demokratischen Öffentlichkeit
Gesund und Krank
– Beate Frenkel: Die Kinderkrankmacher
– Georg Feuser: Geistigbehinderte gibt es nicht! Soziale Exklusion durch Negation der Entwicklung dessen, was wir ›Geist‹ nennen
– Nadine Kirchhoff/Lucie Meier: Behindert ist man nicht, man wird es.
– Erika Feyerabend: Sterbehilfe. Über die Ökonomisierung der Ethik – von Behindertenfeindlichkeit und Tod auf Rezept
Pathologie und Diagnose
– Josef Giger-Bütler: Depression ist keine Krankheit
– Arno Gruen: »Der Süchtige ist lediglich der Rauch, der zeigt, daß irgendwo ein Feuer brennt«
– Wolfram Meyerhöfer: Rechenschwäche gibt es nicht
– Erika Brinkmann / Hans Brügelmann: Ist das Konstrukt »Lese-/ Rechtschreibschwäche« nützlich – oder nicht?
– Dieter Mattner: ADHS gibt es nicht. Unerwünschtes Verhalten ist keine Krankheit
Politik, Medien und Realität
– Günter Berg: … und immer ist die Demografie schuld! Zur ideologischen Funktion eines verdrehten Weltbildes
– Sabine Schiffer: Meinungsbildung schwer gemacht
– Robert Kurz: Politische Ökonomie der Menschenrechte
Bestellen hier: http://www.bdwi.de/verlag/bestellen/index.html.
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