Fremdes..., Seelisches...

Liebe und Trauma

Für A. + J.

„Liebe ist, wenn man einander nicht Halt,
sondern Wind unter den Flügeln ist.“

Jens Wernicke

„Wenn alle Menschen, ob Opfer oder Täter, über das sprechen würden, was ihnen jetzt noch unsagbar erscheint, und offen dafür wären, dass all das ans Licht kommen darf, was sie zu Tätern oder Opfern hat werden lassen, wäre die Psychiatrie in ihrer heutigen Form bald überflüssig. Und wenn es Eltern gelänge, sich ihre eigenen Traumata und Verstrickungen anzusehen und aufzulösen, wäre das die beste Therapie für ihre oft sehr belasteten Kinder. Es wäre zugleich die wirkungsvollste Präventionsmaßnahme, um der Angst, dem Hass, der Verzweiflung, der Verwirrung und der Gewalt in der nächsten Generation den Nährboden zu entziehen.
Die gemeinsame und öffentliche Beschäftigung mit den Ursachen psychischer Verletzungen und seelischer Verstrickungen und ihren generationsübergreifenden Nachwirkungen in Gruppen veränderungsbereiter Menschen kann ein neues Bewusstsein schaffen für das Zusammenleben von Männern und Frauen, Eltern und Kindern und den Menschen in einer Gesellschaft. Denn, was wir heute tun, kann noch in 100 Jahren Wirkungen haben – wir tragen dafür die Verantwortung im Guten wie im Schlechten. Wir sollten uns den Polaritäten von Mann und Frau, Täter und Opfer, Macht und Ohnmacht gemeinsam neu stellen, um neue Lösungen zu finden. Ein Herz für die Täter zu haben, hilft den Opfern. Die Ohnmacht anzuerkennen, macht offen für Hilfe. Die Wahrheit bringt den Wahn zum Verschwinden. Die Liebe heilt die seelischen Wunden. Heilung geschieht, wenn wir mit Liebe die Seelen von Menschen berühren.

Franz Ruppert: „Trauma, Bindung und Familienstellen“

„Weil sie voller Ängste sind und Wahrheiten nicht wissen wollen, sind es die Überlebensanteile, die das Gerücht verbreiten, dass man durch die Wahrheit traumatisiert werden könnte. Für sie ist es ‚normal‘, zu lügen, zu betrügen und Geheimnisse zu haben. Für sie erscheint es ‚logisch‘, die eigenen Befindlichkeiten und Absichten vor anderen zu verbergen. Das Chaos an Verdrehungen, Halbwahrheiten und bewussten Lügen, das in ihnen selbst herrscht, verbreiten Menschen, die in ihren Überlebensstrategien denken und handeln, um sich herum. Sie stehen unter dem Druck, ihre Mitmenschen von ihrer Pseudonormalität überzeugen zu müssen.
Die Wahrheit traumatisiert jedoch niemanden. Für gesunde Anteile sind Wahrheit und Klarheit wesentliche Ressourcen. Gesunde Anteile, welche sich aus symbiotischen Verstrickungen herauslösen müssen, finden zu einer Form der inneren Klarheit, die andere, die sich niemals freikämpfen mussten, möglicherweise gar nicht kennen. (…)
Der Schritt in die Klarheit bedeutet auch zu erkennen, dass es keine Instanz außerhalb mehr gibt, die einem sagen könnte, was richtig und falsch ist und was jetzt das Beste für einen selbst wäre und deshalb jetzt zu tun ist. (…) Es stellt sich die Frage: Wer bin ich, wenn ich nicht die Erwartungen anderer erfülle? Wenn ich nicht funktioniere? Wenn ich mich nicht mehr aufopfere? Was bleibt dann von mir übrig? Was liegt unter dem vermeintlichen Schutzmantel aus Selbstverleugnung und versuchter Selbstauflösung? Was ist mein eigener Grund, weshalb ich lebe? Was macht meine Lebensfreude aus?

Franz Ruppert: „Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen“

„Es kann sehr ernüchternd sein zu sehen, wie sehr das, was man bislang für seine eigene Persönlichkeit gehalten hat, in weiten Teilen ein Konglomerat übernommener Traumata und Überlebensstrategien darstellt. Dies führt zu einer großen Verunsicherung und zu einer vorübergehenden Identitätskrise. Dieser Prozess ist ein notwendiges Durchgangsstadium für das Ausbilden gesunder, eigener Ich-Strukturen, weil erst das Alte aufgegeben werden muss, damit es Neuem Platz macht.

Franz Ruppert: „Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen“

„Der Überlebenswille kann keine klaren eigenen Ziele entwickeln. Er hängt sich an das an, was andere meinen, und wendet sich oft gegen etwas, was andere wollen, in der Annahme, etwas Schlimmes verhindern zu müssen. (…)
In symbiotischen Verstrickungen ist der eigene Wille ein Anpassungswille. Anpassung macht blass, farb- und konturlos. Man schwimmt einfach mit den anderen und der Masse mit, denkt wie alle anderen und fühlt wie sie. So glaubt man sich in einem größeren Ganzen aufgehoben und kann sich gar nicht vorstellen, ohne dieses äußere Universum existieren zu können. Dadurch wird man leicht manipulierbar und verhält sich wie ein Fähnchen im Wind.

Franz Ruppert: „Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen“

„Es ist schwer, diese kindliche Haltung aufzugeben, den Eltern helfen zu wollen. Das Bewusstsein dafür, dass die Eltern so sind, wie sie sich verhalten, weil sie traumatisiert sind, fehlt Kindern natürlich. Stattdessen machen manche aus diesem dringenden Wunsch, helfen zu wollen, später ihren Beruf und werden zum Beispiel Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Krankenschwestern oder Ärzte. Einzusehen, dass man traumatisierten Menschen nicht helfen kann, wenn diese selbst ihre Traumata nicht ansehen und daran arbeiten wollen oder können, verlangt eine bewusste Entscheidung gegen das spontane Mitleiden und die unablässige Sorge, wie man am besten helfen könnte.
Die Einsicht, nicht helfen zu können, konfrontiert uns mit der Realität, dass die Beziehung zu einem traumatisierten Menschen zu großen Teilen aus Wunschfantasien besteht. In Wirklichkeit ist in einer symbiotisch verstrickten Beziehung jeder immer zutiefst einsam geblieben. Das Aufgeben von solchen Retterfantasien macht innerlich frei. Erst dann können wir erkennen, wo wir wirklich etwas für andere tun können und wo nicht. Es macht frei von nicht lösbaren familiären Traumalasten und öffnet den Blick für das Lösbare. (…)
In jedem, der retten will, steckt ein innerer Anteil, der selbst gerettet werden möchte. Das entspricht der Situation des kleinen Kindes, das seinen Eltern helfen möchte, damit es selbst deren Unterstützung und Schutz erfährt. Daher gilt es auch, über diese Haltung hinauszuwachsen, dass ein anderer einen retten soll.“

Franz Ruppert: „Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen“

„Sind die mit Notwendigkeit auftretenden Paarkonflikte hingegen nicht lösbar, so beruhen sie in der Regel auf symbiotischen Verstrickungen. Symbiotische Verstrickungen in Partnerschaften sind die Folge davon, dass sich Menschen mit Symbiosetrauma-Erfahrung aus ihrer Kindheit gegenseitig angezogen haben. Weil solche Partner in sich gespalten sind, in einen Anteil, der dringend Nähe und Liebe sucht, und einen anderen Anteil, der wegen der schlechten Erfahrungen in der Kindheit Angst vor zu viel Nähe hat und falschen Vorstellungen von Liebe nachhängt, finden sich einerseits die traumatisierten Anteile zielsicher in der Hoffnung, endlich von einem anderen Menschen gesehen zu werden. Andererseits aber kommen die Partner wegen ihrer Überlebensanteile nicht richtig zusammen und stoßen sich gegenseitig immer wieder zurück. So können verstrickte Paare nicht voneinander lassen und nie wirklich in Harmonie miteinander auskommen.
Illusionen und Idealsierungen, die im Verhältnis zu Mutter und Vater aufgebaut wurden, werden auf den Partner übertragen. Ebenso ist die Bereitschaft hoch, sich in die Traumata des Partners einzufühlen, seine seelischen Leiden mittragen zu wollen und zu versuchen, ihm zu helfen, wie man es schon immer in Bezug auf den traurigen Vater oder die überforderte Mutter getan hat oder immer noch macht. Die Idealisierung eines Partners wie die Identifikation mit seinem seelischen Leiden wird mit Liebe verwechselt – eine andere Form der Liebe hat man als Kind eben nicht kennengelernt. Die Liebesformel in symbiotisch verstrickten Beziehungen lautet: Wir brauchen einander zum gemeinsamen Ertragen unseres Leidens.
Die Angst, mit den unerträglichen Gefühlen aus dem eigenen Symbiosetrauma in Kontakt zu kommen, verhindert eine zu große emotionale Öffnung und führt bei zu intensiver Nähe mit dem Partner leicht zu einem automatischen Abschalten der Gefühle, um den befürchteten Kontrollverlust zu verhindern.“

Franz Ruppert: „Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen“

„Das Zusammenleben und Abhängigsein von traumatisierten Menschen bedeutet Dauerstress und lässt einen Menschen innerlich nie zur Ruhe kommen. Je mehr sich jemand aus symbiotisch verstrickten Beziehungen befreien kann, je mehr er versteht, dass dauerhaft gute Beziehungen mit traumatisierten Menschen, die nicht an sich arbeiten, nicht möglich sind, desto mehr wächst in ihm das Bedürfnis nach gesunden Beziehungen.

Franz Ruppert: „Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen“

„Wer sich von der illusionären Liebe eines anderen Menschen abhängig macht, kämpft um dessen Zuneigung ohne Aussicht auf Erfolg. Er bemerkt nicht, dass der andere gar nicht ihn meint, sondern einem Liebesmythos anhängt, den sein Überlebens-Ich sich konstruiert.“

Franz Ruppert: „Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen“

„Es ist aussichtslos, Menschen auf ihre Illusionen hinzuweisen, solange sie nicht selbst das Bedürfnis und die Notwendigkeit verspüren, ihre Ansichten und Handlungsweisen zu hinterfragen. Selbst wenn man jemand, der seine Illusionen braucht, um sich seiner schmerzhaften und verstrickten inneren Situation nicht bewusst zu werden, mit den besten Argumenten konfrontiert, wird dies in der Regel zu heftiger Gegenwehr führen. Menschen verteidigen ihre Überlebensstrategien umso zäher, je mehr sie sich unter Druck gesetzt fühlen. Sie haben Angst, sonst in das Chaos ihrer Traumagefühle abzustürzen und völlig die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren.“

Franzt Ruppert: „Trauma, Angst und Liebe“

Nur wenn Klienten das, was sie in ihren Überlebensstrategien wahrnehmen, fühlen, denken oder erinnern, als ihre Schutzschilder vor dem Kontakt mit der Realität erkennen, können diese an Bedeutung verlieren. Dann haben die gesunden Anteile mehr Raum, sich stärker ins Spiel zu bringen und sich weiter zu entfalten.“

Franzt Ruppert: „Trauma, Angst und Liebe“

„Wer traumatisiert ist, lehnt die traumatisierten Anteile von sich ab. Seine Überlebensanteile möchten mit ihnen nichts zu tun haben. Wie aber soll man wieder ganz werden, wenn man sich selbst nicht mag? Wenn man nicht Ja sagen kann zu seiner ganzen Person und seiner ganzen Lebensgeschichte? Das therapeutische Durcharbeiten all der schlimmen und schwierigen Lebenserfahrungen kann im Endeffekt nur ein sinnvolles Ziel haben: sich wieder selbst zu mögen und zu lieben, und zwar mit allen Anteilen. Das erscheint den meisten traumatisierten Menschen wie ein sehr fernes Ziel. Es ist jedoch erreichbar.
Es ist nicht erreichbar über narzisstische Grandiositätsgefühle, auch nicht über spirituelle Illusionen, die von den Überlebensanteilen an dieser Stelle gern produziert und für die Wirklichkeit genommen werden. Es ist das Ergebnis eines längeren Weges hin zu den eigenen Ängsten, Wutgefühlen, Schmerzen, Schuld- und Schamgefühlen, welche die Lebensfreude und das Gefühl, ein liebenswerter Mensch zu sein, überlagern.

Franz Ruppert: „Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen“

Wenn symbiotisch verstrickte Liebe, also die Illusion von vorgestellter Liebe und die Angst vor wirklicher Nähe und Begegnung, aufgegeben wird, dann kann Liebe jenseits von Trauma und symbiotischer Verstrickung Wirklichkeit werden. Es kann der Satz gesagt werden: Ich liebe mich selbst. Ohne Vorbehalte, ohne schlechtes Gewissen und ohne Arroganz.“

Franz Ruppert: „Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen“

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