Fremdes..., Seelisches...

Aus Liebe zum Leben

Wir alle haben die Fähigkeit, die Lebenskraft zu beeinflussen. Die Kunst des Heilens ist in einem so hohen Maße angeboren, daß wir modernen, wissenschaftsgläubigen Menschen ihr meist nur wenig Beachtung schenken. Trotzdem hat die Kunst des Heilens nichts von ihrer Macht verloren.

Lange bevor es Chirurgen, Psychologen, Onkologen und Internisten gab, haben die Menschen sich gegenseitig geheilt. Auch heute könnten wir Heilung für unsere Verletzungen finden, wenn wir uns auf unsere Fähigkeit besännen, anderen Menschen zu helfen. Welche Kraft liegt in den einfachsten menschlichen Beziehungen: in der Intensität einer Berührung, in der Wohltat einer Vergebung oder in der Bereitwilligkeit eines anderen, einen so zu nehmen, wie man ist, und das Gute in einem zu entdecken.

Jeder Mensch kennt leidvolle Erfahrungen. Aber aus unseren Verletzungen und Wunden kann Weisheit entstehen, eine Weisheit, die uns befähigt, andere zu heilen. Dabei ist es weit wichtiger, dass wir uns selbst und andere als Einheit aus Körper und Seele und Geist sehen, als dass wir uns zu ausgewiesenen Experten entwickeln. Experten können uns zwar kurieren, aber unsere Verwundungen können nur von Menschen geheilt werden, die selbst durch leidvolle Erfahrungen gegangen sind. Nur sie sind fähig, wirklich zu helfen, denn das Geheimnis des Heilens liegt im Mitleiden, nicht im reinen Fachwissen.

Als ich an der Stanford-Universität lehrte, gehörte ich zu einer kleinen Gruppe schulmedizinisch orientierter Ärzte und Psychologen, die zu einem eintägigen Seminar mit Dr. Carl Rogers, einem Pionier auf dem Gebiet der humanistischen Psychologie, eingeladen war. Ich war noch sehr jung und stolz darauf, eine gefragte Expertin zu sein. Die von Rogers entwickelte therapeutische Methode der »Uneingeschränkten Akzeptanz und Wertschätzung« schien mir zwar eine bedauerliche Senkung des Niveaus zu sein, aber seinen Therapieerfolgen haftete – so hieß es – geradezu etwas Magisches an. Ich war daher sehr neugierig und ging hin.

Rogers war ein ausgesprochen intuitiver Mensch. Als er uns seine Arbeit mit den Patienten erläuterte, machte er oft Pausen, um nach geeigneten Worten für das zu suchen, was er in seiner täglichen Arbeit instinktiv und fast unwillkürlich tat. Diese Art zu reden unterschied sich erheblich von dem wohlartikulierten und autoritären Vortragsstil, den wir gewohnt waren. Ich bezweifelte, dass ein so offensichtlich zögerlicher Mensch überhaupt über fachliches Können verfügen konnte. Wenn ich ihn recht verstand, hieß »Uneingeschränkte Akzeptanz und Wertschätzung« nichts anderes, als schweigend dazusitzen und ohne jede Wertung oder Deutung alles zu akzeptieren, was der Patient sagte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte.

Schließlich bot Dr. Rogers an, uns seine Methode vorzuführen. Einer der Ärzte meldete sich freiwillig als »Patient«, und Rogers stellte zwei Stühle auf und setzte sich dem »Patienten« gegenüber. Bevor er sich ihm zuwandte, um mit seiner Demonstration zu beginnen, warf er einen nachdenklichen Blick auf sein kleines, aus lauter Experten bestehendes Publikum, zu dem auch ich gehörte. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Dann begann Rogers zu sprechen: »Vor jeder Sitzung nehme ich mir einen Augenblick Zeit, um mir mein eigenes Menschsein zu vergegenwärtigen«, erklärte er uns. »Dieser Mann hier hat wohl keine Erfahrung gemacht, die ich nicht mit ihm teilen könnte, keine Angst empfunden, die ich nicht verstehen könnte, nichts erlitten, was ich nicht nachempfinden könnte, denn ich bin ein Mensch wie er. Gleichgültig, wie tief seine Verletzungen sind, er braucht sich vor mir nicht zu schämen, denn auch ich bin verletzlich. Und weil das so ist, bin ich auch fähig, ihm zu helfen. Welche Geschichte auch immer er mit sich herumträgt, er braucht nicht länger damit allein zu sein. Das ist der Beginn seines Heilungsprozesses.«

Die nun folgende Sitzung war beeindruckend. Rogers leitete sie, ohne ein einziges Wort zu sagen. Er teilte sich seinem »Patienten« nur durch die besondere Art seiner Aufmerksamkeit mit und vermittelte ihm, dass er ihn so akzeptierte, wie er war. Der »Patient« begann zu erzählen, und schon bald ging die Sitzung über die reine Demonstration einer Technik weit hinaus. In dem sicheren Bewusstsein von Rogers‘ totaler Akzeptanz legte unser Kollege nach und nach seine schützenden Masken ab, bis sein Gesicht schließlich große Offenheit und Verletzlichkeit ausstrahlte, die ihm eine lebendige Schönheit verliehen. Ich bezweifle, ob er sich selbst schon einmal so gesehen hatte. Jetzt konnten auch viele von uns ihre Alltagsmaske fallen lassen, einige hatten sogar Tränen in den Augen. Ich erinnere mich noch an mein Bedauern darüber, mich nicht selbst als Freiwillige gemeldet zu haben, und ich beneidete diesen Arzt um die Erfahrung, von einem anderen Menschen ganz und gar angenommen zu werden. Von einigen wenigen Augenblicken mit meinem Patenonkel abgesehen, hatte ich diese Erfahrung nie gemacht.

Ich hatte stets hart daran gearbeitet, gut genug zu sein; das war der eherne Maßstab, nach dem ich entschied, was ich zu lesen, was ich anzuziehen, wie ich meine Zeit zu verbringen, wo ich zu leben und sogar, was ich zu sagen hatte. Selbst »gut genug« war für mich noch nicht gut genug. Ich hatte mein Leben lang versucht, perfekt zu werden. Doch wenn Rogers recht hatte, war Perfektion nicht mehr als ein Trostpreis. Es kam einzig und allein darauf an, menschlich zu sein. Ich war menschlich. Mein ganzes Leben lang hatte ich befürchtet, dass eines Tages jemand dahinterkäme.

Was Rogers uns klarzumachen versuchte, ist ein sicherlich sehr einsichtiges Grundprinzip jeder therapeutischen Beziehung: Wie gut wir auch ausgebildet sein mögen – das größte Geschenk, das wir einem leidenden Menschen machen können, ist unsere Ganzheit.

Die Fähigkeit des Zuhörens ist das älteste und vielleicht auch das wirkungsvollste Heilmittel, über das wir verfügen können. Wenn wir wirklich zuhören können, bewirken wir oft mehr als durch die klügsten Worte. Indem wir jemandem zuhören, geben wir ihm mit unserer Aufmerksamkeit die Möglichkeit, sich als ganzen Menschen wahrzunehmen. Zuhörend werden wir zu einem Ort der Zuflucht für den anderen Menschen, für alles, was von ihm und anderen verleugnet, abgelehnt und als wertlos erachtet wird und verborgen bleiben musste. In unserer Kultur zählen Seele und Herz sehr oft dazu.

Beim Zuhören entsteht ein Raum der Stille. Wenn wir anderen Menschen bereitwillig zuhören, wird die Stimme der Wahrheit in ihrem Inneren vernehmbar, oft zum ersten mal. Und in der Stille des Zuhörens erkennen wir uns selbst in einem anderen. Vielleicht gelingt es uns eines Tages sogar, in allem den sanften Gesang des Unsichtbaren wahrzunehmen.

Als ich kürzlich an einem verregneten Tag durch meine Heimatstadt New York lief, dachte ich an das satte Grün der Landschaft, in der ich nun lebe (Westküste), und Dankbarkeit erfüllte mich. Wie leicht wuchs dort alles. Nicht jedes Lebewesen hat den Lebensraum, den es benötigt, um zu wachsen und zur Vollendung zu gelangen. Im Regen wirkte diese Welt aus Beton und Steinen besonders hart und trostlos und offenbarte die schreckliche Fähigkeit des Menschen, alles Natürliche seinem Willen zu unterwerfen. Weit und breit schien es nichts Lebendiges zu geben, das für den Regen hätte dankbar sein können. Trotzdem regnete es. Auch unter den härtesten Umständen besteht die Möglichkeit zu wachsen. In dieser Hinsicht gleicht das Zuhören dem Regen.

Quelle: Rachel Naomi Remen: „Aus Liebe zum Leben“

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