Fremdes..., Seelisches...

Heilung

Wir haben von Cheiron, dem verwundeten Heiler gehört. Da drängt sich die Frage auf, was Heilung wirklich bedeutet. Viele Menschen glauben, Heilung sei nur ein anderes Wort für Gesundheit.

Da liegen Missverständnisse vor. Gesundheit ist von dieser Welt. Es betrifft unser körperliches Dasein auf der Erde. Heilung ist von einer „anderen Welt“, einer unsichtbaren Welt, die der Wissenschaftler normalerweise ablehnt, zumindest ihr aber nicht zugewandt ist. Wir haben vom menschlichen Bewusstsein gesprochen, wir haben von der mythologischen Ebene gesprochen, wir haben von der Seelenebene gesprochen. Unterschiedliche Begriffe, die eines gemeinsam haben: sie versuchen etwas in Worte zu fassen, das zwar existiert, aber unsichtbar ist. Man sagt, unsere Seele sei „Träger des Bewusstseins“. Damit liegt bereits fest, dass Bewusstsein nicht zur Welt der sichtbaren Formen gehört. Zweifellos hat aber alles, was ein Mensch in die Sichtbarkeit bringt, seinen Ursprung in der Unsichtbarkeit, nämlich im menschlichen Bewusstsein. Worte wie Mut, Demut, Anmut, Gleichmut, Sanftmut, ja sogar Übermut beschreiben (Geistes-) Gaben, die zwar einen vielfältigen Ausdruck in der äußeren Welt finden, jedoch zu den Gaben und Talenten gehören, die unserem Bewusstsein innewohnen. Wir haben in dem Beispiel vom Maler und seiner Fähigkeit, Bilder zu malen bereits davon gesprochen. Das Sichtbare ist das Bild, das unsichtbare ist die Fähigkeit, solche Bilder zu malen. Jeder schöpferisch-kreative Akt ist das Sichtbarmachen unsichtbarer Kräfte, Energien und Fähigkeiten.

An ihren Taten werdet ihr sie erkennen“, das ist die christliche Botschaft, die denselben Zusammenhang beschreibt.

Wenn nun Gesundheit die äußere, körperliche Ebene meint, so weist uns Heilung auf die Bewusstseinsebene hin. Heilung meint also die Verbindung mit einem Lebensprinzip, von dem wir durch die Ich-Bildung abgetrennt sind. Heilung vollzieht sich schrittweise. Jeder Heilungsschritt ist gleichbedeutend mit einem Bewusstseinsschritt. Schon anhand dieser Darstellung wird klar, dass Heilung letztlich kein Ziel hat – außer schrittweise wachsendes Bewusstsein bis hin zu einem umfassenden Bewusstsein, von dem wir uns kein Bild machen können. Heilung ist also – wie das Wort schrittweise nahelegt – ein Weg. Im Zen-Buddhismus vergleichbar mit der lakonischen Aufforderung: „Geh weiter!“

Man spricht hier vom Weg als Ziel. Mit anderen Worten: auf „dem Weg sein“ wird als „Heilsein“ gesehen. Da wird einsichtig, warum die zentrale christliche Heilsbotschaft in der Aufforderung besteht:

„Steh auf, nimm dein Bett und geh!“

Unheil ergibt sich, wenn der Mensch von seinem Weg abkommt oder es im Leben zu einem Stillstand gekommen ist. Einen Weg der Selbsterkenntnis bzw. einen Heilsweg zu gehen wäre natürlich sinnlos, wenn uns nicht entsprechende Fähigkeiten und Hilfsmittel mitgegeben wären, die aus allem Unheil heraus- und auf unseren Weg zurückführen. Da gibt es nun eine Reihe, doch möchte ich mich auf die wichtigsten beschränken, auf Disharmonie und die extremen Formen von Disharmonie, die berühmten „3Ks“: Konflikt, Krankheit und Krise. Befinden wir uns in einer disharmonischen Lebenssituation und spüren im Innern das Ungleichgewicht, können wir die gegebene Lebenssituation danach befragen, was uns fehlt. Auf irgendeine Weise ist unsere innere „Waagschale“ ins Ungleichgewicht geraten. Eine der beiden Schalen ist nicht genügend gefüllt: hier fehlt uns etwas. Bin ich ein „Workaholic“ fehlen mir die Meditation, die Muse, die Zeiten der Entspannung. Bin ich ein Einzelgänger, ein „lonely wolf“ fehlen mir die Kommunikation und der Austausch mit anderen. Bin ich ein „Familientyp“, der sich gerne in den eigenen vier Wänden aufhält, fehlt mir das Fremde, das Unbekannte. Nun tritt Heil natürlich nicht gleich ein, wenn der Workaholic meditiert, der „lonely wolf“ in die Kommunikation geht und der Familientyp mal in ein fremdes Land reist. Es geht um einen inneren Prozess des Ausgleichens, an dessen Ende sich wieder innere Harmonie einstellt. Dazu bedarf es im Bewusstsein einer Grenzüberschreitung verbunden mit einer Auflösung der Einseitigkeit. Der Workaholic – um bei diesem Beispiel zu bleiben – muss erst herausfinden, warum er die Arbeit viel höher bewertet als die Entspannung. Oder anders ausgedrückt: warum er lieber arbeitet, als sich zu entspannen. Denn hier hat in der Vergangenheit die Abtrennung stattgefunden. Mit der Kraft des Kronos hat er sich von der Entspannung abgetrennt und dadurch erst zum Workaholic gemacht. Die aus solchen Abtrennungen hervorgehenden Gewohnheiten nennt die Psychologie Muster. Sie sind die Quelle einseitig-verfestigter Lebensformen. Besonders anfällig für die Kristallisierung solcher geronnenen Lebensformen sind Familien. Hier spricht man von Familienmustern, wenn schon – wie im Beispiel des Workaholics – über Generationen hinweg Eltern und Großeltern immer nur wie besessen gearbeitet und dadurch Entspannung nie kennengelernt haben. In der Psychologie ist nach wie vor der Irrtum verbreitet, das Verhalten eines Menschen sei „vererbbar“ nach dem Motto: Vater Workaholic, Sohn Workaholic oder Vater Trinker, Sohn Trinker, usw. Die Untersuchungen in dieser Richtung ergeben keine echten Beweise. Meiner Meinung nach ist es besser, bei Verwandtschaftsähnlichkeiten von Resonanzen zu sprechen. Vererbung klammert die unsichtbare Ebene aus und bezieht sich alleine auf die sichtbare Ebene, dazu gehören auch die Gene.

Wir wissen, dass Ähnlichkeiten sich anziehen. Wir sagen: „Gleich und gleich gesellt sich gern“. Das betrifft die sichtbare Welt und zeigt sich in den Bekanntschaftsanzeigen der Gazetten nur allzu deutlich. Da sucht der Mann die Frau mit gleichen Neigungen und umgekehrt. Wenn Gleichgesinnte sich suchen, betrifft das meist die äußere Ebene. 

Für die innere Ebene gilt der Satz: „Gegensätze ziehen sich an“.

Unser Bewusstsein ist so gepolt, dass der eine, abgetrennte Pol immer seinen Gegenpol sucht. Liebe ist die Kraft, Gegensätze zu vereinen, das haben wir schon oft gehört und gelesen.

Aber auch verinnerlicht?

Wenn zwei Menschen sich lieben, hören wir oft, dass der eine zum anderen sagt: „Du fehlst mir“. Meist wissen die beiden gar nicht, welch wesentliche Aussage sie da getroffen haben. Liebesverbindungen sind „Bindungen“ auf der Bewusstseinsebene. Jeder der beiden Liebenden hat Bewusstseinsbereiche integriert, die dem anderen fehlen. Wir haben von Ares und Aphrodite gehört und uns sicher dabei gewundert, wie total unterschiedlich die beiden sind. Ja, ihre Begegnung ist nicht Folge einer Schulbekanntschaft, die sich über Gewohnheit zu einer weitverbreiteten Form der Liebe „langsam hinentwickelt“ hat. Sie sind Gegensätze, echte Gegensätze, die vom ersten Augenblick an diese unbeschreibliche, gegenseitige, starke Anziehungskraft spüren. Sie lieben sich schon, bevor sie sich näher kennenlernen. Liebe auf den ersten Blick nennt das der Volksmund, wohl wissend, dass es sie gibt und zugleich wissend, dass sie einem nicht gerade häufig im Leben begegnet. Der Sinn solcher Liebe ist Bewusstseinserweiterung, das ist ein innerer Vorgang, der sich eines Tages auch in einer transformierten, äußeren Lebensform zeigt. Jetzt erkennt auch die Umwelt, dass ein Mensch – wie es so schön heißt – nicht mehr derselbe ist wie früher. Von unserem geliebten Partner können wir unglaublich viel lernen über das, was uns fehlt. Nur eines sollten wir niemals versuchen: den Partner zu ändern. Wir lieben ihn ja gerade wegen seiner Andersartigkeit. Liebe selbst ist das wandelnde Prinzip. Sollten wir etwas an unserem Partner nicht lieben und es ändern wollen, dann gibt es nur einen rechten Weg, uns zu versöhnen mit dem, was wir ablehnen. Denn jede Ablehnung entspringt aus einer Abtrennung auf der eigenen Bewusstseinsebene und kann nur geheilt werden durch Versöhnung. Wenn der Workaholic – um bei diesem Beispiel zu bleiben – seinem Partner vorwirft, er würde immer nur faul herumliegen und nichts tun, dann liebt er nicht. Und zwar genau das Nichtstun. Es zählt zu den wunderbaren Fügungen des Lebens, dass gerade die geliebte Person uns den Anreiz zur Entwicklung bietet. Das zu beherzigen wäre gleichbedeutend mit der Anerkennung, dass der Weg der Liebe und der Weg des Heils identisch sind.

Erst wenn wir aus dieser Einsicht herausfallen, mutiert die Schlange zum Symbol des Bösen. Jetzt plötzlich beißt sie uns in die Ferse, jetzt treten wir überall in die berühmten Dornen und Disteln des biblischen Schöpfungsberichts. Doch die Schlange ist nicht böse. Sie ist weise und gilt als Prinzip der Entwicklung. Sie als böse zu bekämpfen heißt einen Kampf zu führen gegen die eigene Entwicklung. 

Wie würde wohl heute unsere Welt ausschauen, wenn Adam seinerzeit zu Gott gesagt hätte, diesen wunderbaren Apfel habe ich gerne von meiner geliebten Eva angenommen. Und Eva zugegeben hätte, dass sie zutiefst neugierig war und liebend gerne den Apfel von der Schlange in Empfang genommen hat. Wir Menschen hätten von Anbeginn an das Wesen der Liebe erahnt und uns viel Leid erspart. Doch es ist, wie es ist. Der erste Mensch hat nicht die Verantwortung für sein Tun übernommen und Schuld auf die Schlange projiziert. Es ist das menschliche Grundmuster, das wir Erbsünde nennen. Darunter leiden seither alle nachfolgenden Generationen. Wir stehen zu Adam und Eva in Resonanz, deswegen neigen auch wir zur Schuldprojektion. Vielleicht hat der Schöpfer nicht damit gerechnet, dass sich Adam und Eva schuldig fühlen. Von ihm, dem Schöpfer müssen wir annehmen, dass er das Prinzip der Schuld nicht kennt und dieses Prinzip erst über den Menschen in die Schöpfung kam. Schuldprojektionen scheinen eine speziell menschliche Schwierigkeit zu sein, mit der wir möglicherweise ohne Götterhilfe zurande kommen müssen. Eines ist sicher, die mythologische Ebene kennt keine Schuld. Dass Ödipus seinen Vater tötet oder seine Mutter heiratet ist mythologisch betrachtet jenseits von Gut und Böse. Es ist einfach – und nichts weiter. Bewertungen kommen von den Menschen, die solche Mythen deuten. Gerade beim Ödipusmythos habe ich schon angedeutet, dass die Psychologie einen Teil davon als Ödipuskomplex herausgenommen und der menschlichen Bewertung ausgesetzt hat. So neigen viele Psychologen dazu, es als ungesund und behandlungsbedürftig zu bezeichnen, wenn sie diagnostizieren, dass ein Mann in der Partnerin seine Mutter sucht. Ja mancher Psychologe versteigt sich sogar in die Diagnose „Ödipuskomplex“, wenn einem Sohn der Abnabelungsprozess nicht gelingt und er weder Mut noch Kraft hat, das Elternhaus zu verlassen. Hier fehlt komplett das mythologische Denken. Und das mythologische Wissen. Denn der Mythos zeigt, dass Ödipus sehr wohl sein Elternhaus verlassen hat und sein Lebenslauf letztlich im Guten endet. Es wäre fruchtbarer, den Bewusstwerdungsprozess zu fördern und zu versuchen, das innere Auge für einen speziellen Heilungsvorgang zu öffnen, der seinen Ursprung hat in der Vermeidung des Orakelspruchs. Ein Kampf gegen die mütterliche Seite heilt nicht, sondern vertieft und intensiviert die Thematik. Das Leid nimmt also zu statt ab. Die Bewusstseinsebene braucht Versöhnung, nicht Bekämpfung.

Aus: Johann Wolfgang Denzinger: Mythos und Bewusstsein

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